Kleiner Kummer Großer Kummer
Sprechstunde beendet habe.«
Sie setzte sich mit untergeschlagenen Armen auf ihr Bett und heftete ihren wachsamen Blick auf die Tür. Unten bat ich Sylvia, sie nicht zu stören. Ich würde nach der Sprechstunde versuchen, das Rätsel zu lösen. »Ich habe Angst, Liebster«, sagte sie, »sie scheint es auf mich abgesehen zu haben.«
Ich hauchte ihr einen Kuß zu. »Keine Sorge, Liebling. Ich habe die Tür von außen zugeschlossen. Sie scheint geisteskrank zu sein, vielleicht ist sie aus einem Irrenhaus entlaufen.«
Wie es sich herausstellte, war meine Annahme nicht weit von der Wahrheit entfernt. Emily hatte die letzten zehn Jahre wiederholt in Nervenkliniken zugebracht. Dieses Mal hatte man sie unter der Bedingung entlassen, daß sie unter der Aufsicht ihrer Schwester blieb. Diese Schwester, froh, sie ein wenig loszuwerden, hatte angenommen, daß sie in eitlem Arzthaushalt gut untergebracht sei, und hatte sie daher gehen lassen. Diese Einzelheiten herauszubringen und zwischen meiner Sprechstunde und meinen Besuchen immer wieder nachzusehen, ob Emily noch nicht ausgerissen war, nahm die beste Zeit eines unbeschreiblich turbulenten Tages in Anspruch. Emilys Schwester meldete sich nicht am Telefon. Erst am frühen Abend konnte ich sie erreichen, und dann erklärte sie mir ganz ruhig, daß sie nicht die Absicht hätte, Emily wieder zu sich zu nehmen, und da sie anscheinend einen neuen Anfall bekommen hätte, sei es wohl das beste, sie gleich wieder ins Irrenhaus zurückzuschicken, in dem sie schon zweimal gewesen sei und wo man sie mit offenen Armen aufnehmen würde.
Es war Mitternacht, als ich Emily dort endlich losgeworden war und müde und gereizt ins Bett fiel.
»Um Himmels willen, nimm nie wieder eine Verrückte ins Haus«, bat ich Sylvia. »Ich habe genug zu tun, ohne daß ich über Land fahren muß, um verrückte Dienstmädchen ins Irrenhaus zurückzubringen. Sei bitte so freundlich und verlange bei der nächsten eine Referenz. Eine persönliche Referenz.«
Sylvia gähnte. »Es sieht nicht so aus, als ob es so bald eine nächste geben würde. Mädchen sind knapp, aber du kannst dich darauf verlassen, daß ich den Lebenslauf jeder zukünftigen Bewerberin studieren werde. Ich möchte nicht gern in meinem Bett ermordet werden.«
Ich drehte das Licht aus.
»Findest du nicht auch, daß es schade ist?« fragte Sylvia.
»Was?«
»Mit Emily. Sie verstand ihre Arbeit gut.«
»Das ist bei Mördern meistens der Fall«, antwortete ich. »Gute Nacht!«
Zwei Tage bevor ich nach Edinburgh zu dem Wiederholungskurs aufbrechen mußte, hatte ich immer noch keinen Stellvertreter für meine Praxis, und auch für Emily hatten wir noch keinen Ersatz gefunden. Es sah sehr zweifelhaft aus, ob ich überhaupt würde fortfahren können. Auf der Ärztekammer versprach man mir, das möglichste zu tun, und es bestände die Aussicht, daß man mir am Ende des Tages jemand schicken könnte. Sie wollten versuchen, ihn zu erreichen. Ziemlich niedergeschlagen durch die Lage der Dinge, da ich sehr gern nach Edinburgh gefahren wäre, hoffte ich, daß der zugesagte Vertreter passender sein würde als der letzte Arzt, den man mir geschickt hatte.
Sein Name war O’Brien gewesen. Er war eines Freitagnachmittags angekommen, während Emilys erster Woche bei uns.
»Da ist eine Persönlichkeit für Sie, Doktor«, hatte Emily angekündigt, indem sie meine Handschuhe auf ihrem Weg auf den Dielentisch abfing, als ich von meiner Besuchsrunde zurückkam. »Ein Doktor O’Brien, wenn meine Ohren mich nicht getäuscht haben. Ich habe ihn ins Wohnzimmer geführt.« Sie schnüffelte in ihrer gewohnten Art, und ich überlegte, wodurch der arme Doktor O’Brien wohl ihr Mißfallen erregt hatte. Es dauerte nicht lange, bis ich das herausfand.
Ich fand es etwas seltsam, als ich Doktor O’Brien nicht auf einem Stuhl sitzend vorfand, wie man annehmen konnte, sondern mit herunterbaumelnden Beinen auf meiner Musiktruhe hockend. Und dabei singend. Er sprang sofort herunter, als er mich sah, und nachdem er über die Rosen des Teppichs auf mich zugewankt war, ergriff er meine Hand und schleuderte sie wie einen Pumpenschwengel hin und her. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Doktor«, sagte er, während mich sein Atem fast betäubte, als er sprach. »Das ist ja ’n Traumhaus, was Sie hier haben, still wie im Grab und dazu die nette Hausbar...«
Ich zog meine Hand aus seinem festen Griff, wobei er fast umfiel.
»Doktor O’Brien«, fuhr ich auf. Er hob
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