Kleiner Kummer Großer Kummer
seine Hand.
»Ich weiß, Junge, ich weiß. Sie glauben, ich bin ein bißchen betrunken. Nee, nee, das ist nicht der Fall. Um ehrlich zu sein«, er senkte seine Stimme vertraulich, »ich leide an einer seltenen Art von Gleichgewichtsstörung. Habe ich mir im Osten geholt, als ich auf Seiner Majestät Schiff...«
»Doktor O’Brien«, wiederholte ich ernster und trat auf ihn zu. Er stieß mich fort.
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Junge. Als ich noch so jung war wie Sie, frisch von der Universität, hatte ich auch meine Schwierigkeiten mit Diagnosen. Ich erinnere mich, als ich noch meine eigene Praxis hatte...«
»Was die Vertretung anbetrifft, Doktor«, begann ich in der Absicht, ihm zu erzählen, daß der Posten schon vergeben sei.
»Ach ja, die Vertretung. Meinen letzten Posten hatte ich in einer kleinen traurigen Industriestadt voll rauchender Schornsteine, eine Kirche, ein Kino und einundzwanzig Wirtschaften!«
Ich faßte seinen Arm. »Ich muß Ihnen leider sagen, daß der Posten schon vergeben ist«, erklärte ich ihm, während ich ihn zur Tür schob. »Man hat Sie wohl irrtümlich benachrichtigt.«
»Ja, ja«, sagte er liebenswürdig, »denken Sie nicht schlecht von mir, Doktor - und Ihre Hausbar ist wirklich großartig.« Er warf einen Blick zu meinen Flaschen hinüber.
»Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich einen Tropfen von meiner Medizin nehme.« Er zog eine Taschenflasche heraus und genehmigte sich einen großen Schluck Whisky. »Mist, soda sal. cum colchicum«, erklärte er, »gut für die knarrenden Gelenke.«
Als ich ihn beobachtete, wie er in seinem fadenscheinigen, lose auf seiner knochigen Gestalt hängenden Mantel den Gartenweg hinunterwankte, tat er mir wider Willen leid. Was hatte ihn wohl zu einem Trinker gemacht und ihn auf diesen traurigen Weg von Vertretung zu Vertretung gehetzt? In seiner Studentenzeit war er sicher genauso sorglos gewesen wie der Rest seines Jahrgangs, empfänglich für Wissen, und für eine glänzende medizinische Zukunft vorgesehen. Er verschwand um die Ecke, und ich überlegte, ob er wohl schon wußte, daß sein Weg von nun an nur noch bergab ging, oder ob die Whiskyflasche ihn noch weiterhin in einen rosigen Nebel einhüllte.
Ich riß mich zusammen und machte mir klar, daß mein Mitleid mit O’Brien mich keinen Schritt näher nach Edinburgh brachte, worauf ich die Ärztekammer anrief und ihnen mitteilte, was soeben passiert war.
Jetzt war es zwei Wochen her, daß Dr. O’Brien hier war, und noch immer hatte sich kein anderer Anwärter für den Posten eingefunden.
Als ich am Spätnachmittag heimkam und keinen Wagen vor der Tür sah, nahm ich schon an, daß man den angekündigten Vertreter doch nicht hatte auftreiben können, und daß der Wiederholungskursus ohne mich stattfinden würde.
Als Sylvia mir berichtete, daß Doktor Cataract auf mich warte, munterte mich das außerordentlich auf.
Doktor Cataract trug einen Dufflecoat und war zu Fuß gekommen. Der alte Herr hatte eine schlanke, aufrechte Gestalt und eine weiße Haarmähne. Er hatte sich zur Ruhe gesetzt, erzählte er mir, und seine langjährige Praxis abgegeben, und jetzt übernahm er kurze Vertretungen, wenn er wieder einmal Sehnsucht nach Arbeit verspürte. Er befand sich, das versicherte er mir, in Anbetracht seines Alters bei bester Gesundheit, und ich mußte zugeben, daß er danach aussah. Da ich mich an den unglücklichen Doktor O’Brien erinnerte, sah ich die Referenzen, die er mir vorlegte, sorgfältig durch. Sie schienen alle unfehlbar und könnten, wie er mir sagte, durch Anrufe bei den Ausstellern bestätigt werden.
Es gab nur eins, was mir bei Doktor Cataract etwas Sorgen machte. Er hatte weder einen Wagen noch konnte er fahren. Er ginge immer zu Fuß, sagte er mir, und die Ärztekammer hätte ihm mitgeteilt, daß meine Praxis in einem ziemlich geschlossenen Bereich läge.
»Außerdem werde ich für dringende Fälle mein Fahrrad mitbringen.«
»Sind Sie immer auf diese Art fertig geworden, Doktor Cataract?« fragte ich neugierig.
»Immer, ich fahre gern Rad. Autos finde ich gefährlich und ungesund.«
»Ja, aber wie steht es in dringenden Fällen?«
»Wie Sie wissen, gibt es in der allgemeinen Praxis selten Situationen, bei denen sofortige Anwesenheit erforderlich ist, höchstens in den Augen der Patienten und ihrer Verwandten. Tatsache ist, daß sich eine kleine Wartezeit meistens nur günstig auswirkt, das Nasenbluten hört auf, und der ohnmächtige Patient kommt
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