Kleiner Kummer Großer Kummer
gewesen, sich das Leben zu nehmen, wenn ich Tony zu finden versuche. Sie schien diese letzten Wochen hier so glücklich zu sein, daß ich schon annahm, es sei alles dummes Geschwätz gewesen, weil sie ein wenig durchgedreht war. Ich hätte daran denken sollen, daß sie eine Brindley war. Wir sagen nichts ohne Grund; keiner von uns.«
»Wir wissen ja noch gar nicht, ob sie Selbstmord begangen hat«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.
»Sie vielleicht nicht«, klagte er, »aber ich brauche keine Mordkommission, um über Tessa Bescheid zu wissen. Wie sie es getan hat, weiß ich nicht, aber getan hat sie es.«
Ich rief bei der örtlichen Polizeistation an. Es war schon fast Nachmittag, als der Offizier erschien.
Kurz darauf fand er in einem Glyzinienbeet vor Tessas Schlafzimmerfenster ein leeres Schlaftablettenröhrchen. Anscheinend hatte sie sie aus dem Zimmer der Haushälterin mitgenommen und mehr als die Hälfte geschluckt, um sich und dem Kind, das sie trug, das Leben zu nehmen.
Diese Entdeckung rührte H. H. nicht, der, ein geschlagener Mann, in dem Chintzsessel saß. Er blieb auch unbewegt, als man ihm ankündigte, daß es eine Leichenschau und ein Verhör geben müsse.
Als der Offizier mit den Notizen, die er sich über die Untersuchung gemacht hatte, gegangen war, fiel das Haus wieder in Schweigen zurück.
Als ein Klingeln die Stille zerriß, eilte ich an die Haustür.
Auf der Türschwelle stand ein junger Mann in einem grauen Flanellanzug. Über seine Schulter sah ich das offene Kabriolett, in dem er gekommen sein mußte. Er sah gut aus, aber sein Gesicht war müde.
»Mr. Brindley?« fragte er.
Ich hielt ihm die Tür zum Eintreten auf. Ich wußte, wer er war.
Im Wohnzimmer, wo jetzt Streifen von Sonnenlicht auf dem dicken grünen Teppich lagen, blieb er schüchtern stehen.
H. H. blickte einmal kurz auf, dann fiel sein Kopf wieder auf seine Hände.
Der junge Mann zog einen Umschlag aus seiner Tasche.
»Ich bekam einen Brief von Tessa«, wandte er sich an Brindley, der ihn nicht beachtete, »in dem sie mir Lebewohl sagt. Da wurde mir klar, daß ich sie nicht gehen lassen konnte. So habe ich meiner Frau alles erzählt - hätte ich es nur schon früher getan. Sie möchte sich von mir scheiden lassen, weil sie einen Mann gefunden hat, der genauso denkt wie sie, daß Liebe eine geistige Angelegenheit sein sollte. Sie will nicht einmal die Kinder haben.«
H. H. Brindley rührte sich nicht. Der junge Mann blickte mich an, als könne ich ihm helfen, dann wandte er sich wieder an die regungslose Figur in dem Lehnsessel.
»Ich bin sofort hergekommen. Ich weiß, wie Sie von mir denken müssen, und daß das alles nicht hätte passieren dürfen, aber ich will es ihr gegenüber wiedergutmachen. Ich verspreche es.«
Er trat einen Schritt näher zu Brindley und sagte klar: »Ich möchte Tessa heiraten.«
Es dauerte unendlich lange, bis H. H. seinen Kopf von seinen Händen hob und den jungen Mann mit rotgeränderten Augen ansah, in denen nur Abscheu gegen sich selbst lag.
»Tessa ist tot«, sagte er. »Sie hat sich das Leben genommen.«
Für mich gab es hier nichts mehr zu tun. Ich nahm meine Tasche auf und ging, die beiden Männer, die Tessa Brindley mehr als alles in der Welt geliebt hatten, zusammen zurücklassend,
19
Auf der Kieseinfahrt lagen die langen Schatten der Eibenbäume. Die Landschaft kam mir nicht mehr so schön vor, und die kurvenreichen Straßen fand ich heute quälend statt malerisch. Immer wenn ich in den Rückspiegel blickte, sah ich Tessa Brindleys Gesicht vor mir, und in meinen Ohren klang das fröhliche Lachen, an das ich mich von dem Abend unserer Party her erinnerte. Mir fiel wieder der Ausdruck der Bewunderung in Faradays Augen ein, und ich mußte an ihr reizendes, gütiges Wesen denken, das ich bei meinen gelegentlichen Besuchen kennengelernt hatte.
Es war lange Zeit her, daß ich einen Selbstmord durch eine Überdosis Schlaftabletten erlebt hatte, wenn dies auch zu einer gewissen Zeit meines Lebens fast eine alltägliche Angelegenheit gewesen war. Aber damals hatte ich die Opfer nicht persönlich und voller Leben gekannt wie Tessa Brindley.
Meine erste Assistenzarztstelle nach meiner Qualifikation bekam ich auf der Unfallstation eines kleinen Krankenhauses. Es lag in einem Bezirk, der, anders als die mehr konventionellen Wohnviertel, von einer vagabundierenden Bevölkerung von Malern, Schriftstellern, Musikern und Flüchtlingen aus aller Herren Länder bewohnt war.
Weitere Kostenlose Bücher