Kleiner Kummer Großer Kummer
Beschreibung, welchen Eindruck Tony auf ihren Vater machen würde.
»Es sind erst drei Tage her, daß ich seine Adresse herausgefunden habe«, fuhr er fort, noch immer vor sich hinstarrend, als sei er in Trance. »Er wohnt irgendwo in Chelsea, mit seiner Frau und zwei Kindern. Ich hatte erfahren, daß er Donnerstag bei der Zeitung
Spätschicht hat, deshalb ging ich zu seiner Wohnung, bevor er zurückkommen konnte. Ich wollte mich selbst überzeugen, wie die Lage war. Es war nicht viel dran an dem Haus, aber durch Blumenkästen vor den Fenstern doch ganz nett zurechtgemacht. Sie wohnen im obersten Stock. Seine Frau war zu Hause, eine von diesen Blaustrümpfen mit dicken Brillengläsern und Oxford-Dialekt.
Ich sagte ihr, daß ich ihren Mann sprechen wolle. Sie fragte mich nicht, warum, bat mich aber herein und bot mir einen Drink an -er war wirklich so, wie er aussah, das billigste an Sherry - und bat mich, ich möge mich wie zu Hause fühlen. Das war sehr schwierig, selbst wenn ich nicht vorm Überkochen gewesen wäre. Rund herum nichts als Bücherregale, der Teppich war fadenscheinig und das Sofa durchgesessen. Sie hatte in irgendeinem dicken Buch gelesen, aber ich fand, sie hätte sich mit Gardinenwaschen beschäftigen sollen.
Als sie ihren Mann die Treppe ’raufkommen hörte, schrie sie ihm entgegen, den Kokseimer mitzubringen und sich zu beeilen, weil Besuch für ihn da sei. Ich hörte ihn fragen, ob das Essen fertig sei, und sie sagte, daß es Fisch gäbe, und sie würde ihn jetzt auf den Grill legen.
Als er ’reinkam, merkte ich, daß er getrunken hatte. Er setzte den Kohleneimer hin, klopfte mir auf den Rücken und fragte mich, wer ich sei.
>Ich bin Tessas Vater<, stellte ich mich vor und erwartete, daß ihm das das Lächeln vom Gesicht wischen würde. Das geschah. Er wurde blaß und schloß die Tür.
>Ich wollte früher zu Hause sein<, stotterte er, >aber ich hatte noch ein paar Biere mit den Jungs getrunken.<«
Ich unterbrach ihn, um ihm noch einen Brandy einzuschenken. Er schien es nicht zu bemerken.
»Er versuchte nicht, zu leugnen oder sich herauszuwinden«, fuhr H. H. fort. »Das muß ich dem Burschen anrechnen. Ich dachte, ich würde den Mann, der unsere Tessa ruiniert hat, mit meinen eigenen Händen erwürgen, wenn er mir vor die Augen käme, aber ich tat nichts dergleichen. Ich hörte mir an, was er zu sagen hatte, und am Ende tat er mir sogar leid. Er liebe seine Frau nicht, erzählte er mir. Sie sei nur mit Lesen beschäftigt und vernachlässige ihn und die Kinder vollkommen, aber diese beiden Kinder wären sein ein und alles. Die beiden hatten, seit das Jüngste geboren war, nicht mehr als Mann und Frau zusammengelebt, weil sie allein an die geistige Liebe glaubte oder irgend solch ein Unsinn, aber er könne doch nicht davonlaufen und die Kinder im Stich lassen.«
Mir schien das eine ziemlich schmutzige Geschichte; der enttäuschte Ehemann, der sich ein hübsches Mädchen nahm, um seinen Appetit zu befriedigen.
»Ich weiß, was Sie jetzt denken«, fuhr H. H. fort, »weil es das gleiche ist, was auch ich annahm, aber so einfach ist die Sache nicht. Dieser Bursche machte sich Sorgen um unsere Tessa, er war fast krank vor Verdruß, was er da angerichtet hatte, meinte aber, daß seine erste Pflicht das Wohl seiner Kinder sei. Er wüßte, daß ich eine Menge Moos hätte und gut für Tessa sorgen könnte, aber seine Kinder hätten nur ihn. Er sah ein, was er getan hatte, und gab zu, daß nur er die Schuld daran trüge. Er hätte es sich nie träumen lassen, daß es so etwas wie unsere Tessa gäbe, und als er sie kennenlernte, habe er einfach den Kopf verloren.« H. H. nahm einen Schluck von dem Brandy, den ich ihm eingeschenkt hatte.
»Er gab es zwar nicht direkt zu, aber ich merkte, daß unsere Tessa ihn ermutigt hatte. Je länger ich mit ihm sprach, desto besser gefiel er mir. Ein aufrechter Kerl war er und fest entschlossen, bei seinen Kindern zu bleiben. Er wußte, daß seine Frau die Kinder zugesprochen bekäme, wenn er schuldig geschieden würde. Und sie würde nie recht für sie sorgen können, denn außer ihren Büchern habe sie keine Interessen.«
»Haben Sie Tessa erzählt, daß Sie Tony aufgesucht haben?« fragte ich.
In H. H.s Augen standen Tränen, als er stöhnte: »Es war ein solches Durcheinander, daß ich ihn ganz zu bitten vergaß, es ihr gegenüber nicht zu erwähnen. Bis heute früh, als die Haushälterin anrief, dachte ich, es sei Tessa nicht ernst mit ihrer Drohung
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