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Kleiner Kummer Großer Kummer

Kleiner Kummer Großer Kummer

Titel: Kleiner Kummer Großer Kummer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Tibber
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Diese sich immer wieder ändernde Gesellschaft von Wanderern lebte zum größten Teil in möblierten Zimmern, deren Vermieterinnen, unfreundliche, einsame und in ihren künstlerischen Ambitionen enttäuschte alte Damen, nichts zur Erhöhung ihres Wohlbefindens taten. Die meisten hatten keine Familie. Sie gingen allein aus, tranken Ströme von Kaffee in Mitternachtssitzungen mit intellektuellen, ernsten Diskussionen, liebten sich und schieden voneinander. Wenn die Einsamkeit oder das Heimweh oder die Niederträchtigkeit ihrer Wirtinnen größer wurden, als sie ertragen konnten, versuchten sie, mit allem ein Ende zu machen. Manchmal hatten sie Erfolg damit; meistens gelang es, sie zu retten. Gewöhnlich waren es junge Männer und Mädchen in der ersten Blüte ihres Lebens. Wenn sie tot zu uns gebracht wurden, war es meine Aufgabe, zum Krankenwagen hinauszugehen, um das zu bestätigen, damit man sie gleich weiter zur Leichenhalle bringen konnte. Oft sahen sie blau aus, weil sie ihre Erlösung in einer Strickschlinge gesucht hatten; manchmal waren sie naß vom Ertrinken. Einige der Selbstmordversuche waren nur hysterische Gesten, um es einem Liebhaber zu »zeigen«, der sich an ihnen versündigt hatte, oder um einen Freund, der sie schlecht behandelt hatte, Gewissensbisse zu verschaffen. Sie rechneten nicht damit, zu sterben, aber oft war doch der Tod das Ende. Diejenigen, die wirklich sichergehen wollten, nahmen enorme Mengen von Schlaftabletten oder drehten den Gashahn auf, nachdem sie alle Vorbereitungen getroffen hatten, daß kein Gas entweichen und keine frische Luft eindringen konnte.
    Wenn man sie fand, solange noch etwas Leben in ihnen zu spüren war, nahmen wir künstliche Atmung mit Sauerstoff vor und gaben Injektionen. Manchmal, in Fällen von Barbitursäurevergiftungen, waren sie vier bis fünf Tage lang bewußtlos, aber wir hielten sie am Leben durch intravenöse Ernährung und starke Medikamente, die den eingenommenen Drogen entgegenwirkten. Durch große Dosen Penicillin schützten wir sie vor drohenden Lungenentzündungen. Es dauerte lange Zeit, bis ich mich an die Tatsache gewöhnt hatte, daß die durch die unaufhörlichen Anstrengungen von Ärzten und Schwestern ins Leben zurückgerufenen Patienten ein oder zwei Monate später erneut eingeliefert wurden, nachdem sie sich durch doppelte Portionen gesichert hatten, daß ihr Plan diesmal nicht danebenging.
    Dieser Distrikt hatte mit die höchste Zahl an Selbstmorden, und viele der Opfer waren so jung und schön wie Tessa gewesen. Ich hatte jene nicht vergessen, und es würde lange dauern, bis ich nicht mehr an diese mir viel näher Stehende denken mußte.
    Während ich nach Westen in die Sonne hineinfuhr und meine Windschutzscheibe durch Schmutz, Staub und unzählige Sommerinsekten verdunkelt wurde, hielt ich Ausschau nach einer Telefonzelle. Von Brindleys Landhaus aus wollte ich nicht nach Hause anrufen, da H. H. ein Gespräch an seine Gattin angemeldet hatte, die gerade ihre Ferien in Mallorca verbrachte. Ich war viel länger als erwartet fortgeblieben und wollte mich nun versichern, ob bei Sylvia noch alles in Ordnung war. Endlich konnte ich vor einer Telefonzelle in einer ruhigen Straße halten. Ich mußte lange warten, bis Iris sich meldete, wobei ich in dem kleinen Spiegel plötzlich entdeckte, daß ich zwei graue Haare bekommen hatte. Ich fragte, wie es Sylvia ginge.
    »Gott sei Dank, daß Sie angerufen haben«, rief sie aufgeregt. »Sie hat nichts gesagt, aber sie hat sich hingelegt.«
    »Kann ich sie sprechen?«
    »O. K. Bleiben Sie am Apparat.«
    »Und, Iris...« Aber sie war schon gegangen, und in mein Ohr tönte das höhnische Ticken des Freizeichens. Entweder waren wir unterbrochen worden, oder Iris, gedankenlos vor lauter Liebe, hatte den Hörer aufgelegt. Und zu allem Unglück hatte ich kein Kleingeld mehr.
    Ich eilte in den Wagen zurück und wollte losbrausen. Nach zwei oder drei Meilen würde ich im nächsten Ort, in Hoxley, wechseln und noch einmal anrufen können. Aber kaum hatte ich den Gang eingelegt, als es ein schreckliches »Krch« gab, das den ganzen Wagen zu erschüttern schien, dann ein erneutes Krachen, dem ein fortlaufendes knirschendes Getöse folgte. Der Wagen rührte sich nicht von der Stelle. Aufgeregt versuchte ich es wieder und wieder, immer das gleiche Resultat. Wie George Leech es mir prophezeit hatte, war der endgültige Zusammenbruch da, und es hätte in keinem ungeeigneteren Augenblick passieren können. Hätte ich

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