Kleiner Musicalratgeber für Anfänger und Fortge
leider häufiger vor als man meint. Links neben mir sitzt eine liebe, ältere Dame um die 80, die sich leise mit ihrem Mann unterhält und die Plätze vor mir scheinen frei zu bleiben – was eigentlich, sofern ich die Saalplanbuchung gestern richtig interpretiert habe, nicht sein kann
Und richtig: Just in dem Moment, in dem die Mitarbeiter die Türen schließen wollen, stürzt noch ein junges Paar in den Saal. Eigentlich nichts Bemerkenswertes. Dumm nur, dass er sie um gut zwei Köpfe überragt und bestimmt so um die 1,95m groß ist. Selbstverständlich handelt es sich um die Besitzer der leeren Plätze vor mir. Erleichterung macht sich in mir breit, als der junge Mann seiner Freundin den Vortritt lässt, sich auf den Platz unmittelbar vor mich zu setzen, selbst aufgrund seiner Größe den Platz ganz am Rand nehmen will. Somit hätte ich ihn nicht in meinem Blickfeld. Aber auch was jetzt kommt, ist klar. Murphy’s Gesetz eben. »Ach nee, lass uns mal tauschen... ich will gleich hier sitzen, wenn der Graf vorbeikommt«, wispert sie ihm hektisch zu und schnell wechseln sie den Platz. Na toll. In Wien würde man meinen Platz bei den nun herrschenden Sichtbedingungen jetzt als Säulenplatz für 10 Euro verscherbeln. Genau genommen sieht man auf den Säulenplätzen sogar noch besser. Aber na ja, was soll’s? Davon lasse ich mir den Musicalgenuss heute nicht verderben! Also drücke ich den Rücken durch und sitze kerzengerade. Meine Orthopädin würde bei meinem Anblick bestimmt in Lobeshymnen verfallen, aber auch ich stelle fest, dass diese Haltung durchaus ihre Vorteile hat: So gelingt es mir jetzt fast mühelos, links und rechts an dem Sitzriesen vorbeizuschauen.
Lange Zeit zum Ausprobieren alternativer Sitztechniken bleibt glücklicherweise nicht mehr. Schon geht das Licht aus und die gewohnte Ansage von wegen Vampire, Mobiltelefon-Empfindlichkeit, Bildaufnahmen, bla bla bla, ertönt. »Aha«, sagt die Dame neben mir laut und vernehmlich und kichert. Ich nehme mir vor, das zu ignorieren. Als Erstbesucher hat mich die Ansage auch belustigt, bestimmt habe auch ich damals einen entsprechenden Kommentar dazu abgegeben. Mit den besten Intentionen konzentriere ich mich auf die Ouvertüre, betrachte die großflächige Projektion des Schlosses auf der Leinwand.
»Oh, ein Schloss«, kichert es neben mir und ich spüre eine gewisse Ungehaltenheit in mir aufsteigen. Das wird ja jetzt wohl nicht das ganze Stück so gehen, oder? Oh doch, wird es. »Knoblauch, hihi, Knoblauch«, kommentiert die Dame neben mir die erste Szene, ruft beim Bühnenbildwechsel schließlich fasziniert aus: »Das ist ja toll gemacht, oder Peter?« IhrSitznachbar stimmt enthusiastisch zu: »Ganz beeindruckend!« Ein irritierter Seitenblick meinerseits wird mit einem strahlenden Lächeln und einem »Kaum zu glauben, was heutzutage möglich ist junge Frau, nicht?«, quittiert. Jetzt erschließt sich mir zumindest, warum die erwachsenen Kinder des Paares hinter ihm sitzen und nicht neben ihm. Die nächsten zwei Lieder verlaufen zu meiner Erleichterung ohne größere Störung, von einem gelegentlichen »Ach ja« oder »Oha« mal abgesehen. Endlich ist der Moment gekommen, an dem Graf von Krolock würdevoll durch den Gang zur Bühne schreitet. Ich liebe »Gott ist tot« und der Augenblick, in dem sich der Graf zum Publikum dreht und sein Gesicht enthüllt ist einer meiner Lieblingsmomente. Gebannt bewundere ich die Arbeit der Maskenbildner sowie das ausdrucksstarke Mienenspiel des Darstellers auf der Bühne.
Ein spitzer Schrei unterbricht mich in meiner Bewunderung. »Baaaah, was sieht der Dracula fies aus!« Ich verzichte auf die sicherlich zutreffende Bemerkung, dass sich mindestens Dreiviertel aller Anwesenden hier bestimmt freiwillig beißen ließen und dass sie auch mit Dracula total verkehrt liegt. Immerhin gelingt es mir im weiteren Verlauf, ihre Kommentare gar nicht mehr wahrzunehmen... ganz so, wie man sich auch an den Autolärm gewöhnt, wenn man an einer viel befahrenen Straße wohnt.
Es hätte mich mit meinen Sitznachbarn auch schlimmer treffen können, rufe ich mir in Erinnerung. Wenn man Pech hat, hat man Leute um sich, von denen man anhand ihres Hangs zum ununterbrochenen Kommunikationsaustausch glaubt, dass sie sich jahrelang nicht gesehen haben. Oder wild gewordene Damen älteren Semesters, die halb über ihren Sitznachbarn hängen, um den durch die Gänge flanierenden Vampire bei »Ewigkeit« Kusshände zuwerfen zu können. Außerdem: Es
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