Kleines Lexikon christlicher Irrtümer - von Abendmahl bis Zungenreden
Nur wenn sich der christliche Glaube nicht verstrickt in die eigenen Dogmen und von der Welt absondert, kann
er offen bleiben für konstruktive Auseinandersetzungen mit den Anfragen und Gegebenheiten der heutigen Zeit. Selbst denken und glauben ist da gefragt. Das kann anstrengender sein als stumpfes Repetieren von Dogmen – aber auch viel spannender.
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Christen dürfen Sex nur in der EHE haben
»Wahre Liebe wartet«, fordert eine gleichnamige Gruppierung unter Berufung auf angeblich christliche Moralvorstellungen und verteilt Karten an junge Menschen, auf denen sie mit ihrer Unterschrift ihre sexuelle Enthaltsamkeit bis zur Ehe versprechen können. Auch in anderen fundamentalistisch ausgerichteten Gemeinschaften gilt außer- und vorehelicher Geschlechtsverkehr als Unzucht. Er führe zu Geschlechtskrankheiten und ungewollten Schwangerschaften, wird da behauptet, und es werden strenge Regeln für eine »reine Liebe« aufgestellt, die es gottgewollt nur innerhalb der Ehe geben könne. Dabei beruft man sich auf die Bibel und fordert Reinheit und Verzicht als Gegenmodell zu einer als bedrohlich und zu freizügig empfundenen Umwelt. Wer seinen Begierden nachgibt, sündigt demzufolge. Und auch der Katechismus der katholischen Kirche antwortet auf die Frage »Welche Verstöße gegen die Würde der Ehe gibt es?« unter anderem: »vor- und außerehelicher Geschlechtsverkehr«. Zudem lässt die katholische Kirche Sexualität nur gelten, wenn es dabei vor allem um die Zeugung von Nachwuchs geht; sobald Lustgefühle die Oberhand gewinnen, ist auch Sünde mit im Spiel.
Wie aber kam es zu diesen heute so weltfremd erscheinenden Vorstellungen von Sexualität und Moral? Die Bibel jedenfalls macht zu diesem Thema keine so klaren Aussagen, wie es die Verfechter der Enthaltsamkeit gerne herausdeuten. Um Sittlichkeitsgefühle und Moral oder die Gleichsetzung von Lust und Sünde geht es ihr nicht. Spricht das Alte Testament von Sex außerhalb der Ehe, geht es meist um eherechtliche Fragen. Eine vor
der Ehe entjungferte Frau ließ sich schlichtweg kaum noch verheiraten. Die deutlichste Aussage zum Thema im Neuen Testament macht Paulus. Da die Christen in den ersten Jahren nach Jesu Tod davon ausgingen, das Ende der Welt stehe unmittelbar bevor, rückte der Gedanke an Fortpflanzung und Sex in den Hintergrund. Paulus hält daher ein enthaltsames Leben für ideal. »Um Unzucht zu vermeiden« (1. Korinther 7,2), sollten diejenigen, die die Enthaltsamkeit nicht durchhalten konnten, besser heiraten. Der eigentliche Anstoß für die Herabwürdigung der Sexualität zu einem rein innerehelichen Zeugungsakt kam jedoch von Augustinus (354 – 430). Der Kirchenvater, der in seiner Jugend selbst ein sehr ausschweifendes Leben geführt hatte, entwickelte später geradezu eine Abneigung gegen Sex und meinte, die von Adam und Eva ausgehende Erbsünde werde beim lustvollen Geschlechtsverkehr auf die Nachkommen übertragen. Lustgefühle sollten folglich unterbunden und Sexualität nur noch als notwendiges Übel zur Fortpflanzung innerhalb einer Ehe geduldet werden. Vom 18. Jahrhundert an trat dann im Bürgertum noch die Vorstellung hinzu, unterdrückte Lustgefühle ließen sich in Kreativität und Produktivität umleiten und so viel sinnvoller nutzen.
Erotische Liebe und Lust aus reiner Freude waren fortan ein Tabu. Stattdessen war Sex nun mit Unsicherheiten und Schuldgefühlen verbunden. Erst mit der sogenannten »sexuellen Revolution«, die mit der Einführung der Pille in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einsetzte, begann eine gegenläufige Entwicklung, die auch durch die wachsende Gefahr einer Ansteckung mit HIV seit den Achtzigern nicht aufzuhalten war. Sex ließ sich nun völlig unabhängig von dem Gedanken an Nachwuchs vorstellen und diese Freiheit wurde und wird ausgiebig genutzt.
Sex ist allgegenwärtig, wird vermarktet und überall zur Schau gestellt. Wer nicht so früh wie möglich daran teilhat, fühlt sich schnell ausgeschlossen oder meint, etwas zu verpassen. Immer früher lassen sich Jugendliche auf sexuelle Erfahrungen ein, bei
denen es nur selten um dauerhafte Liebe oder Verbindlichkeit geht. Sex wird zum Konsumgut. Größtmöglicher Lustgewinn wird angestrebt und setzt die Beteiligten unter ständigen Leistungsdruck. Immer neue Anreize müssen her, echtes Gefühl tritt in den Hintergrund.
Angesichts dieser Entwicklung reagieren konservative und fundamentalistische Kreise mit ihrem Ruf nach Rückkehr zu einer angeblich
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