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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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abholen. Ein Gewitter kam herauf, I. s erschienen gegen 9 u. brachten uns im Auto in ihre Wohnung. Sie wohnen schön u. elegant in der Werderstr. bei der Lukaskirche, Riesenpappeln vor großem Balcon, schöne Porträts von ihrem Malerfreund * Felix Müller, 2 gediegene Möbel. Wir haben alle drei sehr gern. Der Mann ist in großer Sorge, auch er. Wenn ihm die Kassenpraxis genomen wird, ist er erledigt. Er wälzt immerfort Emigrationspläne. Die Leute stamen aus Königsberg u. Tilsit; ganz ähnliche Verhältnisse wie bei den * * * Sebbas; erreichte Wohlhabenheit, Not vor den Augen. Es sind natürliche u. gebildete, menschliche Menschen. Juden der besten Art. Sie brachten uns nach 12 im Auto zurück. –
    Ich bin eigentlich nie fleißiger gewesen, nie ausgefüllter als jetzt i. R. Zum Vorlesen während des Tages komme ich nie. Von dem grandiosen Epos der * Reymont = Bauern 3 (1 400 Druckseiten) haben wir in zwei Wochen erst etwa 200 S. geschafft. Aber jede Seite ist ein Genuß, u. jede Scene ein Kunstwerk für sich. – Es liegt mir hier noch vom 3. 7. ein Stichwortzettel zu den * Wasserzigeunern. Wann soll ich ihn ausführen? Ich bin eh schon eine Setzkartoffel u. werde imer dicker. (Und * Heiß ist in München am Herzschlag , während er am Steuer seines Autos saß, schreibt * Voßler; u. die * Papesch sagte, er sei, als sie ihn zuletzt in Freiburg sah, unförmlich dick gewesen). Also die Stichworte bloß zu den Water Gipsies, die mir * * Wenglers englisch gaben:
    Kanalschiffer Fred Green . – Die Barke. Vater Bell. Lily u. ihr Verhältnis. Jane zwischen Fred Higgins, dem Communistenphraseur, der so jamerlich ersäuft, dem adligen Maler Bryan, dem Kanalschiffer. – Die Ideologie des Kinos, des Analphabetismus, die socialen Unterschiede, das Pferderennen, das Hunderennen, die Kegelschlacht – der englische Humor. Eine Studie über den Humor der Engländer, Spanier etc. Kulturkunde vom Humor aus – – u. die wackelnden Principienzähne!
     

 
    11 11/8 Sonntag .
    Am 1. 8 war ich noch immer ohne Nachricht über mein Ruhegehalt. Ich telephonierte im Ministerium an; der erste Beamte am Apparat, etwas unvorsichtig wohl, sagte: Berlin hat Einspruch erhoben – wir wissen noch nichts. Nachher drückte man sich vorsichtiger aus, die Personalakten liegen in Berlin. Dann schrieb man mir, ich erhielte b. a. w. 1 ungefähre Zahlung in der voraussichtlichen Höhe. Ich bekam 480 M überwiesen (das Gehalt war, nach Steuerabzug, 800 M.) Eine leise Hoffnung, daß Berlin etwas zu meinen Gunsten tut, ist offengeblieben. Beide sind wir im Moment so ruhig, wie während des Krieges. Etwas Reserve von * Georg her ist da, u. die Dinge drängen zur Entscheidung.
    Die Judenhetze ist so maßlos geworden, weit schlimmer als in beim ersten Boykott, Pogromanfänge gibt es da u. dort, u. wir rechnen damit hier nächstens totgeschlagen zu werden. Nicht durch Nachbarn, aber durch nettoyeurs, die man da u. dort als Volksseele einsetzt. An den Straßenbahnschildern der Prager Str.: Wer beim Juden kauft, ist ein Volksverräter, in den Schaufenstern der kleineren Läden unten in Plauen 2 Aussprüche u. Verse aus allen Zeiten, Federn u. Zusamenhängen ( * Maria Theresia, 3 * Goethe! etc) voller Beschimpfungen, dazu:
    Wir wollen keine Juden schauen / In unsrer schönen Vorstadt Plauen, überall der Stürmer mit den gräßlichsten Rasseschändergeschichten, wüste * Goebbelsrede – an verschiedensten Stellen offene Gewalttaten. – Fast ebensowilde Hetze gegen politischen Katholizismus, der sich mit der Kommune verbinde, Kirchen besudle u. behaupte, es seien die Nazis gewesen. – Überall die Auflösung des Stahlhelms. 1 Seit Wochen jeden Tag stärker das Gefühl, es könne so nicht mehr lange gehen. Und es geht doch immer weiter. –
    Ich war, da meine Augen gänzlich streiken, beim alten * von Pflugk. Er nahm mich herzlich auf – Blutdruckmessung mit Wage auf dem betäubten nackten Auge, zu hoher Druck – u. sagte auch, es sei am letzten. Er habe viel mit Arbeitern zu tun, unter ihnen gäre es. * Gusti W. will von Streiks wissen, die vorgefallen seien. –
    Inzwischen bei ständigen schweren Augen = u. Herzbeschwerden mehrere Wochen lang 5 Bücher gentes minores durchgearbeitet, die ich aus Berlin hatte u. zur rechten Zeit abgeben mußte. Dieser Tage hoffe ich nun wieder ins Schreiben zu komen: * Holbach . Aber die Gesundheit versagt von Tag zu Tag mehr. Heute am 11/8 ist es gerade ein Jahr, daß ich den Band begonnen habe.
    Ein freundlicher

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