Klemperer, Viktor
sagen, es soll schon in der Zeitung stehen, Straßenkämpfe in Breslau! Das traf ja nun nicht zu, die Russen sind erst in oder bei Brieg. Aber immerhin, das ist doch schon viel, u. die allgemeine Zuversicht tut mir wohl.
Donnerstag Abend 19,30. 25. Januar 45 .
* Frau Stühler klagt oft über die natsoc. Verranntheit u. gläubige Siegesgewißheit ihrer Kolleginnen in dem Confektionshaus Böhme am Georgsplatz. Heute erzählte sie, die Weiber seien verängstigt, rechneten mit dem kommenden Einzug der Russen, stritten darüber, ob es besser sei zu bleiben oder zu fliehen – Flucht wird von der Mehrzahl vorgezogen, die Russen werden als besonders grausam u. mörderisch hingestellt. – Eben war ich unten bei * Waldmann, nach dem Heeresbericht fragen u. die jüdische Stimmung erforschen. * Berger war da u. * Werner Lang – sehr merkwürdig die Eleganz der Klubsessel in diesem Kellerraum hinter der unwirtlichen Diele. Die Russen sind bei Brieg über die Oder, sie sind (deutscher Bericht!) nahe bei Breslau, in Bromberg Straßenkämpfe, Elbing scheint erreicht, Oppeln ist genommen .. Auch unsere Leute rechnen mit russischem Vorstoß gegen Dresden. Es soll schon ein Gewimmel von Schlesienflüchtlingen hier sein. Es scheint wirklich, als ob nun das Ende rasch u. nicht mehr aufhaltbar nahe. – –
Ich las tagüber * Roß u. bin jetzt beim Vorlesen des völlig originellen u. mir ganz neuen * Ehm Welk . 1 –
Erstaunlich u. beinahe beängstigend, daß wir seit vielen Tagen ohne Fliegeralarm sind. Jetzt, wo die Russen bei Breslau stehen! Was bereitet sich vor? – –
Sonnabend Vorm 27/Januar 45 .
Die Katastrophenstimmung, für uns Sternträger zu neun Zehnteln freudig, zu einem angstvoll, aber selbst zur Angst sagt man: Lieber ein Ende mit Schrecken!, verstärkt sich. Ich gebe die Ausbeute der Stimmungszeichen. Provenienz: Ich bekam gestern von * Hesse einen Centner Oberflöz, (soll heute einen halben Ctr Briketts haben), ich unterrichtete nachm. * Bernhard St., war gegen Abend bei * Witkowsky, der jetzt liegt u. aufgegeben ist – * Frau W. hatte mich weinend zu ihm gebeten, * Katz hatte sie auf die Hoffnungslosigkeit der Sache u. die wahrscheinliche Nähe des Todes aufmerksam gemacht –, den ich aber merkwürdig frisch, angeregt u. bestimmt ahnungslos antraf; * E. war bei der * Kreislerin, traf dort * Frau Winde u. * Frau Richter; * Frau Stühler weiß von Böhme zu erzählen; u. auch * Leni, * Frau Cohns grauhaarige schwer hüftverrenkte u. dürftig winzige Schwester, die in einer großen Wäschenäherei der Neustadt arbeitet, berichtet dies u. jenes. –
Die tatsächliche Lage: Kämpfe in Breslau, 2 Oder überschritten, bevorstehende engl. Offensive in Holland. (Englische Quelle, der gestrige deutsche Bericht mir noch unbekannt.)
Leni: Im Saal ihrer Näherinnen, 12 Frauen-Gruppe, heiße es, Dresden bleibe verschont, weil die Russen auf kürzestem Wege in elf Tagen in Berlin sein würden. Woher man die 11 Tage habe u. von welchem Datum an sie rechneten, sei nicht festzustellen. Frau Richter wußte darüber Genaueres. Am 19. I. sei eine russische Erklärung durch den Rundfunk gegangen, zum diesmaligen Jubiläum der Machtübernahme, zum 30. Januar, werde man in Berlin sein. Nachschub-Aufenthalt falle weg, da man im überrannten Warthegau riesige deutsche Vorräte erbeutet habe u. also von da aus die Truppe speisen könne. – Bei Hesse hörte ich erst eine Frau lauter u. rückhaltloser schimpfen, als sonst gewagt wird: man möchte ihnen die Köpfe an die Mauer hauen, man möchte das große Kotzen kriegen, man solle wohl – der Kohlenmangel, die Gassperre! – auf Schnee kochen. Als wir allein waren, klagte Hesse, ein Mann von 58 Jahren, sehr offen. Die oberschlesische Kohle sei gänzlich fort bei abgeschnittener Bahnlinie, an eine neue Front sei nicht zu denken – Auffangstellung? []Haben Sie schon mal gehört, daß ein Dackel einen Elephanten aufgefangenen hat? – uns stehe Hunger, Frost u. Bettelarmut bevor, man möchte nicht weiterleben. – Eine Spinnstoff- u. Altuniformsamlung ist im Gang. Es soll – Quelle Frau Stühler, Frau Winde – dem Volkssturm an allem , der Mannschaft überhaupt an Mänteln fehlen. Es werden in großen Mengen SA-Uniformen abgeliefert; man mag sie nicht im Haus haben, wenn die Russen kommen. – Ich sehe, sagt * Frau St., an der Kasse bei Böhme die Offiziere von der Front; das sind arme abgerissene Schweine. Dazwischen die SS-Scharführer etc., die sind
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