Klemperer, Viktor
sehnsüchtig u. fest deutschen Sippe wird mir eben ad oculos 1 demonstriert durch einen langen autobiographischen Brief meiner Nichte * Hilde, née Sußmann. Sie selber ist jetzt die Schwedin Jonson u. hat * * zwei schwedische Kinder, 2 ihre älteste Schwester * Lotte ist Schwester Martina u. Schweizer Ärztin in Zug, die mittelste, Käthe, ist eine Mrs. * Katy Howard geworden, irgendwo in USA. Und das ist nur * Wallys Nachkomenschaft. Dazu die Kinder u. Enkel * Georgs in USA u. England, dazu die proles der * Felix u. * Berthold 3 .. Hilde berichtet sehr nett u. zutunlich. Sie ist 33 Jahre alt, hat in Berlin die Schule bis zur Unterprima besucht, wollte medizinische Laborantin werden; machte bei veränderten Verhältnissen einen Handelsschulcurs durch, war in Berlin, London u. Paris auf guten Posten, dann in Stockholm; löste eine Jugendliebe u. heiratete vor 7 Jahren, also mit 26, ihren jetzigen * Mann. Von ihm schreibt sie einigermaßen kühl, er sei 13 Jahre älter als sie u. sehr verwöhnt. Sie sei ganz u. gar Hausfrau geworden, sehne sich manchmal nach ihrer kaufmännischen Stellung, aber zwei Kinder entschädigten sie für alles. (Ich möchte jetzt, auf einige rätselhafte Briefe feu * Martin Sußmanns zurückblickend, auch auf seine Deckadresse, fast annehmen, daß er Zwist mit dem Schwiegersohn gehabt oder vielleicht in einem Zwist der Eheleute Partei ergriffen habe.) Wie fremd u. fern sind mir alle diese Schicksale nächster Blutsverwandter. Morgen ist Wallys Geburtstag, sie wäre dann 68 Jahre alt .. Ich sehe mich noch mit Marta im Oktober 36 vor der Friedhofshalle sitzen. Das internationale Judentum – * Marta u. zwei ihrer * * Kinder sind in Südamerika, ihr * Ältester ist Palaestinenser ... Hilde J. scheint in bescheidenen, eher schon engen Verhältnissen zu leben. – –
Gestern kam eine Postbestimmung heraus, wonach im Fernverkehr nur noch offene Postkarten, keine Briefe, zulässig sind. Offizielle Begründung: die Post ist nach Fortfall vieler Züge etc. überlastet; wahrscheinliche causa realis: der Isolationswunsch, Stadt von Stadt von Stadt, Gruppe von Gruppe, Einzelnen vom Einzelnen zu sondern, jeden mit Censur u. Verfolgung zu bedrohen, Meinungsaustausch u. Zusamenschlüsse zu verhindern.
Über die Nennung Oppelns im Heeresbericht taute gestern * Steinitz auf: da ist er vor 50 Jahren Volontär in einem jüdischen Getreide- u. Bankgeschäft gewesen, von da aus hat er seinen ersten Waggon Weizen, ich glaube nach Brieg verkauft. In einem dieser oberschlesischen Nester war sein Vater so großer u. reicher Getreidehändler, bis er, []eine Spielernatur bankrott machte u. sich mit Vermögensresten nach Berlin zurückzog. In all diesen Erinnerungen schwelgte Steinitz: alle jüdischen Kaufleute in Schlesien kannten seine Familie, da war gut leben .. Es muß ein ganzer Stam gewesen sein, die Getreide- u. Bank- u. Pferdejuden in Posen u. Schlesien. Sie fühlten sich wohl, sie waren beides: Juden u. Deutsche. Auch * Katz stamt aus dieser Ecke. Auch * Lewinsky (* in Kempten 4 ).
Nach 19 h. Was man im Ausland von uns, u. was man nicht weiß. * Hilde fragt, ob sie uns mit irgendetwas helfen könne. Ob wir eine Medizin brauchten. Also kennt sie die deutsche Apothekennot. Ob mir Kleidung fehle, ob sie mir * Martins (Vatels) Pelz schicken solle. Also weiß sie nicht, was mit dem Judenpelz geschähe.
Ich zwang mich am Spätnachmittag zu einem Spaziergang, am Elbufer bis zur Sachsenbrücke. 5 Spiegelglatter vereister überschneiter Boden, Schollen auf der Elbe ... Beim Ausmarsch traf ich * Konrad auf der Treppe. Ich soll Sie von * Schlüter grüßen, er ist aus Brieg geflüchtet (wohin er seine Teefabrik verlegt hatte), er sagt, in vier Wochen sei Schluß. Auf dem Rückweg ging ich für ein paar Minuten zu * Eisenmann – vielleicht wußte er Neues, vielleicht gab es eine Cigarette für * E. Er schnitt sich gerade aus Thimig & Möbiusresten Closettpapier u. schenkte mir ein Päckchen davon; das ist fast so selten wie Tabak, u. da E. inzwischen bei * Frl. Paulig Cigaretten ertauscht hatte, 10 gegen ¼
tb
Margarine, herrschte nachher Freude bei uns. Ich erzählte von Schlüters Ausspruch. Noch so lange? Er war der Meinung, die Russen seien nicht mehr aufzuhalten, es werde schneller gehen. Zugleich aber fürchtete er viel für uns Besternte. Wir verabschiedeten uns, wie das jetzt üblich: Auf Wiedersehen – aber hoffentlich nicht Nachts im Keller! Beim Weggehen auf der Treppe traf ich * Werner Lang: Die Leute
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