Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
Vom Netzwerk:
möglich ist. – Ich las * Zweig vor. (Eng) Dann pünktlich 21 h der dritte Alarm , fast sofort Vollalarm, u. nun fast volle zwei Stunden bis gegen 23 h dauernd. Eine ernste Angelegenheit. Immer wieder Einzelflieger heransurrend und tief u. laut über uns. Wir standen im Mantel, das Gepäck bei uns[,] an der Flurtür. Wurde es ruhig[,] gingen wir in die Wärme des Contors zurück, dösten in der Sophaecke bis zum nächsten Surren. E. meinte fernes Schießen oder Einschläge zu hören. Die Geräusche waren unklar, auch das Blut in den Ohren lärmt. In der Laborküche lagen noch die zwei Hemden im Spülwasser. Nach der Entwarnung hatte E. noch Arbeit, es wurde beinahe Mitternacht, ehe wir zur Ruhe kamen. Heute dann um 6 heraus. Zähneputzen, Rasieren, Kaffee = d.h. Süßstoffwassertrinken aus derselben Tasse. Alles nach oben geräumt, ehe wir uns zum Frühstück setzen. Um 8 h * Scherner. Nach dem Krieg frage ich ihn erst gar nicht mehr. Der Bombenangriff soll gestern Thüringen (Gera) gegolten haben. – Alles ist mir nun schon Gewohnheit, auch der ständige Wechsel zwischen Hoffnung u. Todesangst. –
    Eben holt * Ullmännchen, die Privatsekretärin, sie heißt aber Uhlmann , das große blonde gutartige Nazimädel, [hier oben etwas und berichtet,] die Russen seien von oben her gegen Brandenburg zum Angriff angetreten. Sie erzählt auch von furchtbaren Zuständen in Berlin, wo sie Verwandte hat. Aus eigenem Erleben: sie sei vor einem Jahr nach B. u. dort gleich am Anhalter Bhf. in schweren Angriff geraten: Brandbomben, Sprengbomben, brennende Wagen u. Koffer, ein Hotel in Flamen – sie habe unter dem Zug gelegen. Aber am Potsdamer Bhf Platz wurden eine Stunde später schon Blumen verkauft, wir nahmen einen Strauß Vergißmeinnicht mit. Inzwischen aber setze sich all die Zeit über, u. jetzt beinahe täglich, die Vernichtung fort. Evakuierung sei nicht geplant – wohin auch mit den vielen Menschen? Gegen die Russen baue man Barrikaden.
    Gegen 19 h . Alarm , kleiner, ist den ganzen Nachmittag gewesen, nur einmal für wenige Minuten etwa um ½ 5 unterbrochen. Wir wollten bald nach dem Essen bei Meyer – immer stärker die Doppelqual des Hungerns u. des Sichverfolgtfühlens – in Südrichtung wandern. Beim Schützenhaus stoppte uns Alarm, wir gingen zurück, saßen eine Weile oben, als nichts heulte, trauten wir uns dann wieder fort.
    ½ 2 h Nachts (also genau 16. III ½ 2 Morgens) Nachmittags ½ 5 war in Neustadt Entwarnung, fünf Minuten später wieder kleiner Alarm, erst gegen 6 neue Entwarnung gewesen. Wir waren kaum mit Essen fertig, 20 45 , gab es Vollalarm , auf den bis jetzt keine Entwarnung gefolgt ist. Überhört haben wir bestimmt kein Signal. Aber bei unsern Nachbarn, die Radio u. also Luftlagebericht haben, ist es ruhig geworden, es patrouilliert auch niemand auf der Straße, u. schon seit Stunden haben wir keinen Flieger mehr gehört. So hat sich * E. jetzt halb ausgezogen zu Bett gelegt, u. wenn ich mit diesen Notizen fertig bin, will ich auch Nacht machen. –
    Wir gingen also Nachmittags in Südrichtung – es muß aber doch mehr nach SW hin gewesen sein, eine Karte fehlt uns, die Landstraße hinauf. Wir glaubten in das Kipsdorf[-]ähnliche Waldgebiet zu kommen, das blieb aber zu unserer Linken, u. der Weg führte immerfort über freies Gelände. Immerhin war der weite Blick sehr hübsch. Einmal konnten wir rückblickend Falkenstein mit seinem spitzen Kirchturm u. dem grünen Helmchen des Rathauses sehen, dann versank es, um erst auf der Höhe hinter Neustadt wieder, u. diesmal deutlicher u. zusamengefaßter, wieder hervortreten. Neustadt, etwa reichliche 3 km von hier entfernt[,] ist ein ganz seltsamer u. eigentlich rätselhafter Ort. Im Wesentlichen eine einzige aber sehr lange Häuserzeile. Davon das Wenigste Dorf- oder Bauernhaus u. nur ein stattlicher Bau offenbares Gutsgebäude. Alles andere städtisch: Backsteinhäuser, moderne Villen, irgendwelche Verwaltungsbauten. (NB. Rote Backsteinhäuser dominieren hier in Falkenstein in auffälligster Weise, auch * Sch s Marienapotheke liegt in solchem Backsteinhaus.) Dies alles würde nun auf Industrie deuten, könnte Directors-, Ingenieurs- usw. Wohnung sein. Aber man sieht keine Fabrikbauten; nur an wenigen Häusern ohne Schlote u. Maschinensäle Firmenschilder: Gardinenweberei. (Auf der Auerbach-Seite heißt es: Wäschefabrik). Ob es in dieser Gegend so vielen Fremdenverkehr gegeben hat, daß die vielen Häuser für Somer- u. Wintergäste berechnet

Weitere Kostenlose Bücher