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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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als Abschlag u. b. a. w. bekommen, u. ich bin doch Frontsoldat 3 u. tatsächlich als Jude entlassen. Auch hörte ich, daß zum 1. 4. 36 die gesamte Kult.wiss. Abt. aufgelöst wird, ihre Ordinarien sollen teils versetzt, teils emeritiert werden. Dazu gehöre auch ich. Aber wer kann bei der Willkür u. Böswilligkeit der Regierung für die Auslegung u. Durchführung der Verordnun ihrer Gesetze bürgen? Man kann sagen, ich sei nicht als Nicht-Arier, sondern als überflüssig (§ 6!) bereits am 1. 5 entlassen, u. das Gesetz gelte denen, die erst am 1. I 36 gehen müßten. Man braucht überhaupt nichts zu sagen, denn man ist ja niemandem Rechenschaft schuldig. –
    Mir fiel heute ein: Nie ist die Spannung zwischen menschlicher Macht u. Ohnmacht, menschlichem Wissen u. menschlicher Dummheit gleich so überwältigend groß gewesen wie jetzt. Radio, Flugzeug – u. der * Führer u. Reichskanzler, die Rassengesetze, der Stürmer usw. Auch die Ohnmacht unserm schwarzen Nickelchen zu helfen, das langsam eingeht, ein apathisches sch dünnes Streifchen.
    Zwei schwere, nun schon wochenlang anhaltende Depressionen neben meinen nie aussetzenden Herzbeschwerden: a) das * Diderotcapitel macht mir unvermuteter Weise qualvolle Schwierigkeiten. An dem ersten Abschnitt (Paradoxe u. Hardouin 1 ) habe ich wieder u. wieder geändert, jetzt wo ich es in die Maschine tippe, feile ich noch immer daran u. bin noch immer unzufrieden. Den * Petrarca- * * Goncourtvergleic 2 h, der mir so bedeutsam schien u. noch scheint, bringe ich nicht, wie man auf Sächsisch sagt. Ich möchte so gern bis Weihnachten den Band abschließen. b) die in jeder Beziehung unsinnige Quälerei, das Wider die Natur des Autofahrens.
     

 
    Silvester, Dienstag Nachm 31. Dez 35
    Am 29 Dezember, Abends 7 Uhr, habe ich den ersten Band meines 18 Jh s, Du côté de Voltaire od. Von * Voltaire bis * Diderot beendet. Ich schrieb daran seit dem 11. 8. 34, ich arbeitete daran seit Frühjahr 33. In den letzten Wochen habe ich so krampfhaft jede mögliche Stunde daran gesetzt, daß ich alles andere zurückdrängte. Es war ein Zustand der Besessenheit u. Erschöpfung; auch wenn ich notgedrungen mit anderm beschäftigt war, hielt diese Besessenheit an. Bis in den März wird nun Maschinenschreiben u. Feilen dauern. Aber das Buch ist fertig u. ist wohl auch gut. Freilich – wer wird es drucken? Es dürfte 500 Druckseiten haben. –
    Ich setze gleich als zweiten Hauptpunkt den Tod unseres Nickelchens hierher, der mir wirklich nahe ging wie der Tod eines sehr lieben Menschen u. mir all die diesbezüglichen bitteren Fragen aufsteigen ließ u. mich auch heute noch damit verfolgt. Das Tier, freundlich gegen mich u. jeden, hing mit einer rührend leidenschaftlichen Zärtlichkeit an * Eva. Es dämerte die letzten 10, 12 Tage in halber, auch ganzer Bewußtlosigkeit, wenn Eva es aufhob u. vor sich auf den Tisch legte, kam es ein wenig zu sich u. schmiegte sich an sie. Die letzten Wochen war es sehr unreinlich, das Musikzimmer, in dem wir es hielten, roch gräßlich, sah gräßlich aus; aber wir dachten immer, das Katerchen werde sich erholen. Wir brachten es am 9/12 zu * Doctor Groß, es lag schon ganz still in seiner Kiste. Dort wurde es noch einmal untersucht, bekam dann ein[e] Blausäurespritze. – Sentimental? Aber wo ist der Unterschied dem Sterben eines Menschen gegenüber? – Nickelchen war uns als winziges Baby am 31. Juli 32 (Tgb 7. 8. 32) zugelaufen. –
    Sehr bitter war die Regelung meiner Ruhestandsbezüge. Der Schaufensterparagraph der mit vollem Gehalt zu entlassenden jüdischen Frontkämpfer wurde nicht angewendet – er ist für das Ausland da, ist Lüge, wie alles u. jedes Tun dieser Regierung – auch nicht die Emeritierung, sondern der Überflüssigkeitsparagraph 6. Man errechnete 61 % u. zahlte mir auf die 480 vorläufigen Mark im Monat für 6 Monate 59 M. nach. Ich muß also mit etwa 490 M. auskomen. Andere leben mit weniger Geld, u. es wird gehen, aber es ist um so bitterer, als wir uns doch etliche Wochen in Hoffnungen auf das volle Gehalt wiegten. Diese Geldsache soll uns aber auf keinen Fall zur Verzweiflung bringen.
    Die trügerische Hoffnung hatte eine sehr reale Folge. Wir hatten so oft vom Autofahren gesprochen, * Evas Gehemtheit im Gehen, die schlechte Geldlage dazu, die uns mit Autodroschken sparen, an Reisen nicht denken läßt, Autos ringsum, die kleinen Leute in unseren neuen Straßen haben beinahe jeder ihre Garage, freilich sind es Geschäftsleute – –

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