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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Etagèrenabschluß. Bei größeren Bauten ist die Aufstockung in Baukastenblocks – der Sönneckenschrank, sagte ich – beliebt. – Dicht vor Schwaitenkirchen, das ein Dorf von 240 Einwohnern ist, überholten wir zwei offene Pferdewagen mit Flüchtlingen aus dem eben evakuierten Wien. –
    In Schwaitenkirchen fragten wir uns rasch nach * * Burkhardts durch. Ein kleines Haus, vor 6 Jahren gemietet (u. wohl nur teilweise gemietet). Bescheiden kleinbürgerliche Leute; der Mann 40 Jahre lang Setzer u. Correktor bei Bruckmann in München, dann hat er sich mit 65 Jahren zur Ruhe gesetzt u. nach ländlichem Frieden gesehnt. Die Frau nicht viel jünger u. sehr herzleidend. Bei ihnen eine Tochter, in München verheiratet u. ausgebombt, jünger als die Schwester * Lisl Stühler, ein bißchen entstellt durch das Fehlen jetzt unersetzbarer Vorderzähne, aber sympathisch aussehend. Alle drei Leute von einer unübertrefflichen entzückenden wohltuenden Herzlichkeit, sobald wir uns ihnen als Lisl Stühlers Nachbarn vorstellten – sie hatten von uns gehört. Wir erfuhren sofort: Lisl St war mit * Bernhard mehrere Wochen dagewesen, dann aber wieder abgereist, weil sie sich ohne Lebensmittelmarken nicht halten konnte. Es war nicht klar, was sie nun beabsichtigte beabsichtigte, die Eltern waren ohne Gewißheit u. in großer Sorge. Sie hatte nach Dresden zurückgewollt oder vielleicht auch ins Würtembergische, sie hatte von irgendwoher für sich u. den Jungen Marken beschaffen, sie hatte zu den Eltern zurückkehren wollen, die ihr ein sonst beschlagnahmtes Zimmer offen hielten. Wir erfuhren auch sogleich, daß B. s uns nicht aufnehmen konnten; sie fürchteten einen nazistischen Hausbewohner, sie fürchteten, daß jemand von Bernhard St. s Mischlingsblut wußte, sie fürchteten uns als Lisl St. s Nachbarn, sie hatten versprochen, das Zimmer für Lisl St. selber freizuhalten. – Aber wir bekamen eine so gute Rast, wir konnten Athem schöpfen u. Mut fassen. Ich konnte Schuhe u. Strümpfe trocknen u. mich in warmen Strümpfen u. Hausschuhen ausruhen, wir bekamen Kaffee, wir bekamen ein reichliches warmes Abendessen, wir bekamen ein Nachtlager, gemeinsam auf sehr breitem Sopha, ich konnte mich am nächsten Morgen rasieren, es gab noch ein Frühstück – u. bei alledem war man freundschaftlich zu uns, ja u. am Abend hörten wir gemeinsam den englischen Rundfunk u. schöpften Hoffnung aus dem Vormarsch der Angloamerikaner. Wir beschlossen, nach München zurückzugehen u. uns dort nach bei * Voßler zu melden; daß er noch im Maximilianeum lebte, hatten wir schon in der Universität erfragt. Er habe den Herrn Geheimrat u. seine * Frau erst neulich auf der Straße g sehn, sagte der Pedell. Wußte Voßler keinen Rat, dann wandten wir uns eben an eine Organisation, unsere Papiere waren ja in Ordnung. (Nur mußte der Organisation gegenüber, da ja der Fliegerschein vorzulegen war, mit richtigem Namen operiert werden. ) Geringe Gefahr bei dieser Entfernung u. diesem Chaos. – Auf richtigen Namen lautet unsere Falkensteiner An meldung. Dann war es eben der Ostertage u. eines Vollalarms halber nicht mehr zum Ausstellen der Falkensteiner Ab meldung gekomen. – Wir waren ausgeschlafen, gesättigt, gewaschen – wir hatten Mut.)
     

 
    Am Sonnabend d. 7. April also nach Frühstück u. ausgibigem Plaudern führte uns * Vater Burkhardt durch das Dorf zu einer Ein- u. Ausfahrtstelle der 2 km entfernten Autobahn München (41 km)–Nürnberg (111 km). Dort kämen immer Militär- u. Lastautos vorbei, sie nähmen uns bestimmt mit. Unterwegs erzählte u. rekapitulierte er noch manches. Es war fraglos Angst, was B. s verhinderte, uns aufzunehmen. Das Dorf mit seinen 240 Einwohnern habe 83 eingeschriebene Pg s, die Bauern seien eigennützig u. er, B., unter ihnen immer noch der Außenstehende, ein Überwohner sei ihm feind u. schroff nazistisch, man zähle zum Traditionsgau Nürnberg , wo besonders strenge Controlle geübt werde. Dabei seien die Schwaitenkirchener Bauern durchaus nicht nazistisch u. keines-, keineswegs großdeutsch. Der Partikularismus, der Donaustaat ohne den preußischen Militarismus sei ihr Ideal. (Als ob die * Hitlerei in Preußen begonnen hätte!) Aber sie duckten sich eben, solange es not tue. Nur das üppig üppig gebaute u. ausgestattete Maidenhaus im Dorf – Arbeitsmaiden – habe siegreiche Opposition hervorgerufen, die Maiden hätten auf ihre allzu kurze Tracht verzichten müssen – der Bauer ist nicht für das Nackigte!

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