Klemperer, Viktor
wir den nächsten eine Stunde späteren abwarten mußten. Wir kamen dann schon im Dunkeln nach München u. suchten zum zweitenmal den schon vertrauten Bunker auf. Die Überfüllung, die dünne NSV-Suppe, den rüden Ton der Bahnhofswachen habe ich schon beschrieben. Ich wandte mich an einen Sanitäter u. eroberte für * Eva eine Bahre, auf der sie diese zweite Münchener Nacht liegen konnte. Widerlich war es, wie ein sitzender Volksgenosse einen vor ihm liegenden Italiener durch den Wachposten aufrütteln u. auf den Außengang hinausbefördern ließ. Weil er stinke. Komik kam in die Scheußlichkeit, als der Italiener gestikulierend in gebrochenen Worten schrie: Stinken? Kultur? – Wir – Kultur!
Am Sonntag, 8 April in München wurde von den Reinmachleuten u. Wachtposten bald nach 5 h geweckt, wir erschienen wieder im NSV-Raum zum Kaffee, suchten uns päter ein zeitig öffnendes Hôtel (Excelsior) dicht am Bahnhof in schwerbeschädigtem Haus, saßen dort eine Zeitlang ruhig beim Frühstück. Dann die Wanderung zu * Voßler hinaus. Verstärkter Eindruck der großen antikisierenden u. der Ruinenstadt. Besonders großartig u. zerstört die Maximilianstr. (Nachtrag vom ersten Münchener Tag: die Schutt greifenden u. auf Waggons ladenden Bagger .. Die Trauer um das Preysing-Rokokopalais hinter der Feldherrnhalle, um die es weniger schade gewesen wäre.) Schön u. bedeutend die Isar mit ihrer merkwürdigen Mischfarbe aus hellgrün u. kalkweiß, mit ihrer sehr starken Strömung in zwei Armen. Bis auf ein winziges Stückchen Trambahn durchwanderten wir die Stadt zu Fuß, fast den ganzen Weg schon bei kleinem Alarm. Wir kamen von hinten her an das Maximilianeum, es ist da von Gartenanlagen umzogen. An der Mauer groß angemalt: Zur Akademie. Zu Voßler. Zur Bibliothek. Ein öffentlicher Luftschutzkeller. Wir verabredeten: * E. würde mich in den Anlagen erwarten, käme Großalarm, so würde sie den Keller aufsuchen. Im selben Augenblick, theatralisch, kam der Vollalarm. Mit rasch eintreffenden sehr vielen Leuten fluteten also wir zwei beide hinein. Mehrere Räume; ich sah mich nach Voßler um, vergebens. Im Gedränge, durch das ständig Radiomeldungen kamen über den Stand der Fliegerverbände, tauchte bisweilen ein Mann mit Amtsbinde auf. An den wandte ich mich nach einiger Zeit, ob es hier einen besonderen Keller für Hausbewohner gebe, ich hätte gerade Voßler besuchen gewollt. – Da komt eben die * Frau Geheimrat 1 . Eine stattliche Blondine Anfang 50, zugleich würdevoll u. liebenswürdig im Aussehen. Ich stellte mich ihr vor als V. s ältesten Schüler; es erwies sich nachher, daß sie meinen Namen nicht verstanden hatte, trotzdem führte sie mich sogleich hinauf. Ein riesiges elegantes Zimmer, offenbar aber alles in einem: Arbeits-, Eßzimmer, Salon. Keine Amtswohnung trotz Akademie u. Bibliothek, sondern V. privat überlassen. Er stand mitten im Zimmer, auf den ersten Blick wenig verändert – nachher merkte ich aber doch die Altersspuren. Das Gesicht mit ganz kleinem grauem Schnurrbart ziemlich ausgemergelt, oft die Haltung des Schwerhörigen, der sein Leiden verheimlichen möchte, bei aller Lebhaftigkeit nach einiger Zeit entschiedene Ermüdung. * Er empfing mich sehr herzlich: Wir haben oft von Ihnen gesprochen, wir glaubten Sie längst in Amerika! Kaum hatte Frau V. meinen Namen verstanden, so war sie nicht zu halten, E. müsse auch herauf, sie werde unten einfach ihren Namen ausrufen. Ich beschrieb E.: Pelz mit Brandstellen, schwere Brille, u. nach wenigen Minuten waren beide Damen oben. Wir wurden zu einem fürstlichen Friedensmittag dabehalten. V. s haben noch ein Dienstmädchen, haben noch Quellen; wir bekamen eine Suppe, ein friedensgroßes Schnitzel mit jungem Spinat u. Bratkartoffeln, einen Pudding, Eva bekam zwei Cigaretten, ich eine Cigarre, die ich für den Abend aufbewahrte u. so für E. rettete. Dabei wurde immerfort gefragt u. erzählt. Fachsimpeln ist schön, Fachklatschen noch schöner. * Pfandl ist gestorben, 2 * Hämel ausgebombt, * Gelzer in Jena bei einem Terrorangriff gefallen, * Curtius hat sich ganz auf das Mittellateinische geworfen, * Lerch, dessen ältester * Sohn gefallen, halte sich irgendwo im Riesengebirge auf. Sie habe ihm sein Verhalten 19 gegen * Sonja 3 nie verziehen, sagte Frau V., u. Voßler u. ich sprachen sich auch gegen L s Charakter aus. * Rohlfs, 4 der Voßler u. Lerch u. mich so heftig u. unfair angegriffen, 5 ist seit 1938 V. s Nachfolger in München u. noch
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