Klemperer, Viktor
Baumstam vor: * Kristin Lavranstochter. 1 * E. hat das riesige Buch (1200 S.!) vor vielen Jahren gelesen, hat es mir oft gerühmt, hört es gern noch einmal. Sie hat mir immer die unmittelbare Nähe u. natürliche Lebendigkeit dieser Schilderung aus dem frühen 14. Jh. gerühmt, u. ich finde das schon durch die ersten 80 Seiten bestätigt. –
Hier traf ich eben den tailleur; er u. seine Leute werden schon morgen abtransportiert. Er tröstet uns: aussi pour vous la guerre sera bientôt finie. 2 Er sagt, es seien einige amerik. Soldaten u. un lieutenant français im Dorf.
Montag 30. April 45. Unterbernbach .
10 h. Der Franzose verabschiedete sich gestern Abend noch herzlich von uns .. Es fehlte an Licht, es war (u. ist) bitter kalt, wir krochen bald ins Bett. Absolut stille Nacht, absolute Stille auch heute; es scheint, als sei München schon gefallen, denn sonst müßten wir von dorther Geschütz hören. Aber wir wissen gar nichts; seit dem Gewitter neulich fehlt der Strom Strom u. mit ihm nicht nur das Licht, sondern auch das Radio. Amerikaner haben wir noch nicht zu Gesicht bekomen, weder Panzer, noch Menschen, noch Verordnungen; nur sagte uns gestern der tailleur, nach 9 Uhr Abends dürfe man die Straße nicht mehr betreten. Ich denke, Mittags beim * Flammensbeck oder nachher beim * Pfarrer – ich hoffe, er hilft mir mit Lektüre u. einem bißchen Schreibpapier aus – wird etwas zu erfahren sein.
In uns ist immer wieder ein großes Erleichterungs- u. Dankgefühl (Dank gegen wen?), dies Ungeheure, all diese mehr als romantische Gefahr nun wirklich überlebt zu haben. Das wallt immer wieder in uns auf, aber darüber legt sich natürlich von Stunde zu Stunde mehr all das guaio – für minder hart Gesottene wäre es schon ein richtiges Unglück, u. auch wir Hartgesottenen sind schließlich nicht nur hartgesotten sondern auch abgekämpft u., buchstäblich, abgerissen – all das Elend unserer Situation: die Enge, die Primitivität, der Schmutz, die Zerfetztheit der Kleidung, des Schuhwerks, der Mangel an allem u. jedem (wie Schnürsenkel, Messer, Verbandstoff, Desinfektionsmittel, Getränk ...)
Heute morgen gab es auch einen heftigen, dann versöhnlich endenden Zusamenstoß mit der kleinen schwärzlichen * Gruberin um einer uns erst vorenthaltenen, dann doch noch auftauchenden Brodsuppe u. um des Princips willen, ob wir ein Anrecht auf zu lieferndes Frühstück hätten. Einen ähnlichen Zusamenstoß hatten wir neulich mit ihr, als sie die * bürgermeisterliche Anweisung, uns 20 Eier zu liefern, anfangs nicht befolgen wollte, weil wir hamsterten. Es ging ihr erst später auf, daß es sich um kein Hamstern von unserer, um keine Gefälligkeit von ihrer Seite handelte. Und ähnliche Reibungen gibt es andauernd. Dabei schwankt die Frau unvermittelt zwischen Böswilligkeit u. Gutmütigkeit. * Eva nennt die Gruberin nur noch Kätchen, weil beide, die Bäuerin u. * Kätchen Voß, dieselben Hysteriker sind. (Für Kätchen ist aber wohl das Imperfekt richtiger.) Ursache des Übels bei der Gruberin ist aber Hysterie nur zu 60 %. In die übrigen 40 % teilen sich die natürliche Borniertheit der Frau u. das ständige gegenseitige rein sprachliche Mißverstehen. Der Dialekt fällt mir, u. merkwürdigerweise Eva auch, so überaus undeutlich ins Ohr (u. wenn die Leute untereinander sprechen, verstehe ich rein gar nichts), u. die Leute widerum stehen unserm Hoch- u. Norddeutsch so verständnislos gegenüber, daß es immer u. immer wieder zu Mißverständnissen komt. (Die kleine Adoptivtochter * Vicky zählte uns heute ganz intelligent eine Menge Worte auf, die sich norddeutsch u. bayrisch durch Form u. Klang voneinander unterscheiden.) – Wie töricht das Denken der Gruberin ist: Ihr habt s besser als wir, wir arbeiten seit 6 Jahren allein, unsere Nerven sind hin, wir haben nur unsere Brodsuppe bei schwerer Arbeit – und Ihr geht spazieren u. schlaft u. habt besser zu essen als wir .... Auf unsere Antwort: Sie haben noch Ihren Besitz, Sie haben nicht fliehen müssen, Sie haben nicht Hunger u. 100fache Todesgefahr erlitten! Sture Entgegnung, das sei alles Schicksal, aber jetzt gehe es uns besser als ihr, der armen Gruberin. – Danach wie gesagt kam sie mit Brodsuppe u. Freundlichkeit daher, u. bis zum nächstenmal ist nun alles wieder im Gleis.
E hat jetzt hier Waschgelegenheit erhalten u. ist eben beim Einweichen.
Das Bild der drei aus dem Walde tretenden Soldaten verfolgt uns beide. Gemalt wäre es eine
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