Klemperer, Viktor
nichts.
Dienstag 1. Mai 45 Unterbernbach
Wir sind Nutznießer der Schweineschlachtungen, die aus Angst vor dem Feind erfolgen. Erst bei * Agnes, dann (seit Tagen) bei * Flamenbecks u. gestern Abend im Gasthaus. Es ist niedrig, daß ich jedes Essen einzeln erwähne, aber mein Zeitbild wäre verlogen, wenn ich es nicht täte. Und was * E. anlangt, so ist es mir um jede Kalorie zu tun, die ihr zugeführt wird. Bei * Wagners also ist jetzt Raum geworden, wir durften wieder einen Abend bei ihnen essen, u. das ging sehr freundschaftlich in ihrem geheizten Privatstübchen neben der großen Gaststube vor sich. Der Wirt war gesprächig, erzählte, daß er 15 Jahre lang in Aichach beim Stiegelbräu Hausmeister gewesen, erzählte mit Stolz, daß er niemals bei der Partei, daß er katholischer Geselle gewesen, u. wie er mit der SA gerauft u. sich Respekt verschafft habe. Wieweit wird nun der Mantel nach dem Wind gedreht, wieweit darf man trauen? Jetzt ist jeder hier immer Feind der Partei gewesen. Aber wenn sie es wirklich immer gewesen wären ... Echt scheint der aufgespeicherte Haß gegen diezu sein, echt ist wohl auch, daß man Tyrannei u. Krieg längst satt hatte .. Der Wirt erzählte weiter, in München, das von den Amerik umschlossen, kämpften 11 000-Leute mit der Polizei, u. die Am. warteten ab, ob sie eingreifen müßten. Heute früh hörte ich das Gleiche verstärkt von * Tyroller Michael: in München würde mit Flammenwerfern geschossen, das sei nun der Volksaufstand, u. die Amerikaner sähen erfreut zu .. Am Tisch beim Wirt saß noch ein junger italienischer Arbeiter, er erzählte uns viel von den fürchterlichen Zerstörungen u. Blutverlusten in Italien, von der gänzlichen Abwirtschaftung des Fascismus, ich verstand aber nur einzelne Brocken, E. folgte besser.
Nach dem Essen – Gewitterhimmel mit gelben letzten Abendflächen, schwarzer Wald – gingen wir noch ein Stück durchs Dorf auf unseren Halsbacher Wald zu. Von dorther laufen sich gabelnd zwei Straßen durch Unterbernbach: eine, die unsrige, mitten durchs Dorf, die andere, westliche, an der das große Pfarrhaus liegt, den Ortsrand entlang. Auf dieser entfernteren zog, während wir über den freien Wiesenraum zwischen dem Süd- u. Nordlappen gingen, eine singende Colonne im halben Dunkel. Ich hielt sie erst für eine amerikanische Truppe, während * E sogleich sagte, man singe eine Litanei. Am Nachmittag, das hatten wir schon gehört, war ein Mann im Wald durch einen Blindgänger zu Tode gekomen, den brachte man jetzt zum Friedhof. Wir fanden danach am Ortsausgang eine Gruppe, die uns Genaueres erzählte: ein 17jähriger Soldat von der Westfront, den freundliche Amerikaner auf ihrem Panzer mit heimgenomen hatten, war nun hier, im Augenblick da er sich gerettet wußte, umgekomen. – Von der Gruppe lösten sich drei deutsche Soldaten; es wurde uns erzählt, sie hätten nichts zu befürchten, die Am. ließen jeden Nicht-Offizier u. Nicht--Mann ruhig nachhaus wandern. – –
Wir fragen uns: ist die Armee überall in Auflösung? Oder sehen wir nur ein zersetztes Element? Welcher Schl Rückschluß ist gestattet?
Mittwoch 2. Mai. 45. Morgens
Schauderhafte Kälte, Schnee auf Feldern u. Dächern, weiteres Schneien. Dies u. der ständig fehlende Strom machen das Leben mehr als ungemütlich. Dennoch dominiert das Gefühl des Gerettetseins. –
Beim Mittag gestern – (gelobt das Schwein!) – humpelte * Sepp Asam jamervoll herum; er war mit dem verunglückten Kameraden zusamen in den Wald gefahren, sie stießen weiter entfernt auf zwei deutsche zerschossene LKW, ihr Inhalt, Munition, Behelfsteile, Benzinfaß lag am Boden verstreut, der Kamerad, ein paar Meter voraus, stieß wohl an eine Mine, die ihm einen Arm u. ein Stück vom Kopf wegriß, Asam selbst bekam zwei Splitter in beide Oberschenkel.
Nach dem Essen, während * E. schlief, wanderte ich auf Einkauf nach Kühbach . Auf der Hauptstraße, hieß es, sei die Brücke über die Paar gesprengt; ich ging einen sehr schönen Weg, stolz darauf, ihn ohne E. zu finden! durch die Mitte der Natur über Haslangkreit. D. h. quer durch das Holzlager der Mühle, gleich hier über den Bahndamm, ein Stückchen den Pfad am Bahndamm entlang, bis ein kleiner Schleusensteg über das nebenanlaufende Wasser führt u. dann zwischen Flüßchen, Sumpfwiese u. sumpfigem Laubwald auf das Dorf Haslangkreit zu, von dem zur (westlich gelegenen) Hauptlandstraße hinüber nur ein schlossartiger Bau sichtbar ist.
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