Klemperer, Viktor
Ort die Sohle werde annageln können.) Das Schusterhaus in Paar ist das erste im Dorf, wenn man von Radersdorf her die Landstraße entlang hereinkomt; so gingen wir nun gleich auf diesem Hauptweg zurück. Wir stießen auf Kampfspuren. Die kleine Fabrik vor dem Ort, die ich das letzte Mal noch heil getroffen, ist nur noch Brandgemäuer, dachlose völlige Ruine, wahrscheinlich durch einen Tiefflieger unmittelbar vor der Besetzung erledigt. Dann folgt, der Paarbrücke näher, ein Bauernhaus, in das Artillerie ein paar größere u. viele kleine Löcher geschossen hat. Über die Straße ist ein stattlicher Baum gefallen, wüst von seinem Stumpf gerissen. Die Paarbrücke selber ist im Wesentlichen zerstört, neun Zehntel des Betonwerks ist verschwunden, das Metallrohrwerk darunter hängt u. spießt wirr herum, nur ein schmaler unsicherer Zusamenhang ist geblieben, eine Art fragwürdigen Grates. Auch hat man ein loses Brett herübergelegt. Wir tasteten uns vorsichtig zum andern Ufer. Hier im Acker, unmittelbar an der Straße, der geschwärzte Rest u. Trümmerhaufen eines kleinen Gefechtsstandes, wohl einer Mg-Stellung. Eine hochgragende Metallspirale steckt im Boden, ein größeres Maschinenteil oder Mg-Teil liegt daneben, leere Kanister, Gasmaskenbehälter, ein Stahlhelm sind verstreut, über alles, über das Gras darunter ist Flame hingegangen.
Bei der zerstörten Fabrik übrigens – wir hörten nachher beim Abendbrod im Gasthaus, es sei dort für Messerschmitt gearbeitet worden – waren die Baracken an der andern Straßenseite unbeschädigt geblieben. – Auf der letzten Wegstrecke überholte uns zu Rad, die braunen Strümpfe bis in die Kniekehlen dunkel vor Nässe, * Frau Steiner. Sie war sehr deprimiert: ihr * Mann hatte sich als Offizier tags zuvor den Amerikanern gestellt u. war nicht zurückgekomen; sie hatte jetzt auf der Kommandantur in Aichach erfahren, daß er mit anderen Gefangenen schon abtransportiert sei, wahrscheinlich nach Frankreich. Ich tröstete, es werde nicht für lange dauern. Darauf sie: doch , vielleicht fange es jetzt erst recht an, in Aichach solle ein Amerikaner gesagt haben, sie bekämen jetzt Krieg mit Rußland. Ich redete dringlich auf Frau St. ein, sie solle sich doch nicht auch dumm machen lassen durch die verlogene * Goebbelspropaganda. * Eva sagte: Wenn wir es noch lange hörten, glaubten wir es selber. Heute früh das erste Wort der * Gruberin: Die Russen sollen den Amerikanern Krieg erklärt haben! – Ich betete wieder meinen Spruch her: so dum seien die Feinde nicht, erst brächten sie ihre Beute in Sicherheit u. nachher würden sie ihre Zwistigkeiten nicht durch kostspieligen Krieg, sondern kuhhandelnd lösen. Aber ein bißchen von dem Schließlich glauben wir s selber noch hatte doch Gültigkeit. – Cf. hierzu das Gerede vorm Anfang des Krieges mit Rußland: Rußland sei unser Verbündeter od. zum mindesten freundlich freundlich-neutral, unsere Truppen befänden sich schon tief in Rußland auf kampflosen Durchzug nach Asien u. Indien. Ich glaubte es nicht , u. glaubte es doch ein wenig u. ängstigte mich davor. – Cf. des Weiteren: im ersten Weltkrieg hat es Prügeleien zwischen oesterreichischen u. deutschen Soldaten gegeben, u. zwischen der oesterreich. u. der deutschen Regierung war im Punkte Polen genau so wenig Einigkeit, wie jetzt zwischen Rußland u. den Westmächten. Zum Krieg zwischen Oesterreich u. Deutschland kam es deßwegen desswegen längst nicht. Aber Goebbels hat die Schwierigkeiten von San Francisko 1 ausgebeutet, um den Widerstand zu verlängern, u. seine Propaganda wirkt noch, nachdem sie ihm selber nicht mehr helfen kann. –
Wir aßen, wie gesagt, bei * Wagner, mit uns zusamen zwei junge italienische Arbeiter. Sie schenkten E. etwas Cigarettentabak, sie erzählten viel, u. ich verstand ein klein wenig mehr als das letztemal. Berlin soll schon gänzlich gefallen, * Mussolini in Mailand gefangen u. erschossen 2 worden, * Himler in die Schweiz entkomen, Goebbels in Berlin gefangen, * Hitler in Obersalzberg sein ... Alles das schwankendes Gerücht. Als Faktum berichten beide von schweren Städte-Zerstörungen in Italien: Neapel insbesondere sei durch Deutsche u. Engländer total verwüstet.
[Senkrecht nach unten bis Absatzende Eintrag: Nachtrag zum 28.4. ]
14 h. * E. hat mein Tgb nachgelesen u. moniert, der eigentliche Höhepunkt am 28. 4. sei von mir nicht genügend betont worden. Sie meint den Moment, wo wir am Vormittag lesend in unserer Dachkamer saßen.
Weitere Kostenlose Bücher