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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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zum Anzeigen der Geradeausrichtung auf der Schutzscheibe (einen Winker gibt es nicht, beim Abbiegen strecken sie den Arm nach rechts oder links[)]. Die großen u. die kleinen Wagen haben zumeist Eigennamen; auf kleinen las ich Frauennamen wie Mary Ann, auch Baby-Boy, auf einem Laster: Chicago Gangster. Unter einem Bahnübergang stand (wohl von einem Rohrbruch her) tiefes Wasser. Unser Wagen mußte dort warten, weil sich Militärcolonnen nach zwei Seiten, die Räder tief im Wasser, durchwühlten. Plötzlich blieb ein großer u. besonders hoher Wagen stecken, ein Teil seiner Last überschritt die lichte Höhe des Bogens. Der Wagen versuchte immer wieder – es schien sich nur um Centimeter zu handeln, in irgendeiner Drehung zu passieren. Schließlich mußte er seine Last buchstäblich fahren lassen: es zeigte sich, daß er einen Panzer aufgeladen hatte, den er nun rückwärts abrollen ließ. Durch diese Stockung hatten wir überreichlich Zeit, die Stärke u. Massenhaftigkeit dieses Militärverkehrs zu beobachten. Wir fuhren dann weiter in die Stadt u. zu einer Bäckerei Ecke Eisengi Erzgießerei- u. Dachauerstr. Hier, war verabredet worden, sollte unser Gepäck bleiben, nur 8 Minuten vom Bahnhof entfernt, auch sollte eine Trambahn dorthin gehen. Und hier begann nun der Albtraum dieses Tages u. die abscheuliche Enttäuschung. Es gab keine Trambahn in ganz München. Und wir waren nicht 8 sondern wohl reichliche 20 Minuten vom Bahnhof entfernt. Staub, zertrümmerte Häuser u. Autos der Amerikaner, die durch die Schutt-verengten Straßen Wolken-aufwirbelnd jagen: das ist seitdem mein Hölleneindruck von München; ich glaube endlos lange in dieser Hölle zu sein, u. dabei ist es heute erst der vierte Tag .. Am Bahnhof gab es die zweite Enttäuschung: die Restaurants, die im April noch in Betrieb gewesen, waren jetzt alle geschlossen. Nirgends eine Eß = , nirgends eine Trinkmöglichkeit. Immer wieder: wegen Plünderung geschlossen. (An einem Lädchen: ausgeblindert) Wir haben von den Plünderungen viel erzählen hören, in Unterbernbach, in Aichach u. hier. Die ausländischen Civilarbeiter u. Kriegsgefangenen haben offenbar böse gehaust, die Amerikaner erst spät u. milde eingegriffen, sie fanden es wohl natürlich, daß die lange schlecht Gehaltenen sich nun entschädigten ... Wir erfragten die Commandantur: am Rathaus. Dicht dahinter lag die Imbißhalle, in der wir im April etwas bekomen hatten. Dort gab es jetzt eine Tasse Brühe u. eine Tasse undefinierbares Fruchtgelé für mehr Geld, als ein schönes Mittagbrod beim * Flamensbeck kostete – sonst nichts. Wir gingen unerfrischt zum Rathaus zurück, u. hier hatte ich nun die entscheidende u. deprimierendste Enttäuschung. Es standen dort zahlreiche Posten der MP (Military Police). Vor ihnen waren Seile gespannt, u. diesseits der Seile stand ein großer Haufen wartender Leute, zu einem großen Teil Ausländer. Die Sonne brannte glühend. Ich versuchte ein paarmal an einen Posten heranzukomen, ihm radebrechend klarzumachen, daß ich ins Rathaus müßte , daß ich von den Amerikanern selbst geschickt sei usw. Immer vergeblich. Ich wurde von einem baumlangen Kerl mit Gummiknüttel, ich wurde auch von Kle weniger kinohaften Soldaten mit umgehängtem Gewehr am Arm gepackt u. zurückgeschoben.
     

 
    (Di. 22/V 7 h. Speisesaal) Eine Gruppe Ausländer wurde aufgerufen, durfte in ein anderes Abtrennungsnetz hinuntersteigen – der ganze Platz erinnerte mich an einen Viehmarkt –, wurde in das Rathaus gelassen. Der deutsche Haufen wartete weiter. Eine junge Dolmetscherin erschien neben dem langen Gummiknüttel-Kino-Policeman: Alle[,] die um Fahrräder hier sind, herübersteigen ins seitliche Netz! Ein sehr großer Teil stieg über das seitliche Seil. Sie sollen sich an die deutsche Polizei wenden. – Zurufe: Da waren wir schon, die schickt uns her. – Wir haben hier anderes zu tun – Sie müssen zur deutschen Polizei! Die Leute trabten resigniert ab. Die Dolmetscherin rief weiter: Reiseerlaubnis wird nicht erteilt, Reiseerlaubnis wird nicht erteilt. Der Haufen schmolz zum Häufchen zusamen. Jetzt winkte der Kinoboy den einzelnen Personen, eine nach der anderen schlüpfte durch das Seil auf den Tabu-Innenplatz u. wechselte sehr einige Worte mit der Dolmetscherin. Die Abfertigung war jedesmal eine blitzschnelle, offenbar negative. Die Reihe kam an mich. Ich zeigte der jungen Person meine Papiere, trug ihr meine Sache so knapp u. eindringlich als möglich vor. Sie müssen zur

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