Klemperer, Viktor
von Aichach dauernd nach München gewiesen sind; auf dem amerik Pass steht nur: für 3 Tage zum Besuch eines Doctors. Es kann uns also blühen, ohne Marken allein auf die unmögliche Verpflegung irgendeiner Blumenschule angewiesen zu sein. Das wäre genau so schlimm wie irgendein Camp u. vielleicht schlimmer.
.. Noch eine Auskunft einholen? Entweder ist sie negativ oder falsch, wahrscheinlich ist sie ungewiß, denn niemand weiß, was die nächste Dienststelle, was die nächste Stunde anordnet. * Maron sagte: Unsere vorgesetzte Behörde ist die Landesregierung in der Holbeinstr. Ungewiß, ob man Sie vorläßt, ungewiß, was Sie erreichen. Im übrigen: Kaulbachstr 65 oder wenn Sie es wagen .. Nachts um 2 Uhr wachten wir auf, * E. kam an mein Bett, wir erwogen wieder hin u. her. Ergebnislos. * Mariez-vous! Ne mariez pas! 1 – –
Das Martinsspital . Hinter dem Hausgarten liegt der besondere Garten der Schwestern. Spanisch, sagt E, da viel Steinernes darin ist, nicht Monumente, sondern Einfassungen der Beete; man könnte aber auch sagen, Rokoko, da sich auf engstem Raum zierliche Rund- u. Laubengänge ziehn. Den Mittelpunkt bildet eine Grotte mit Marienstatue u. seitlich durch Rotscheibe angedeuteter ewiger Lampe. Man kann zu diesem Privatgarten auf zwei Wegen gelangen: an den zerstörten Stallbauten, zwischen einer neuaufgerichteten Mauer u. Schutt vorbei, und über freieres Gemüseland. Auf diesem freieren [Abschnitt], von fernher näherkomend u. dann dem Hause zuwandelnd, sehe u. höre ich Abends die Schwestern in stattlicher Prozession ziehen, die Oberin voran, ein militärischer Zug. Ihr Psalmodieren klingt nicht viel beseelter als die gräßliche Litanei der Spittelgreise. Und ein bißchen muß ich immer an * Busch denken: Bruder Jochen betet vor 2 ...
Gleich am zweiten Tage besuchte ich den Herrn Curatus, 3 eine sehr dicken Herrn, u. bat ihn um Lektüre. Er war ausnehmend liebenswürdig, hatte aber offenbar nicht die Qualitäten Pfarrer * Molls. Ich bekam von ihm * Chledowski Die Menschen der Renaissance 4 ; darin habe ich nur geblättert, es schien mir mehr zusamengetragen u. in Einzelheiten schwelgend, mit üblichem Roma eterna-Pathos, 5 als bedeutend. Aber ich habe kein Recht, darüber zu urteilen. Ferner ein Bändchen Heinrich * Hansjakob Schneeballen, 6 woraus ich den Vogt auf Mühlstein vorlas. Am ehesten erinnert das noch an * Franzos Halbasien, 7 denn es ist Mischung aus Dichtung u. Kulturgeschichte, es ist auch Mischung aus beginnendem Realismus der 90 Jahre (Auflehnung gegen süße Dorfgeschichte) u. vieux jeu. 8 Aber ungleich, ungleich schwächer als Franzos. In törichtester Weise wird einerseits ständig auf den gebildeten, den städtischen Kulturmenschen, die neue Zeit gescholten u. Partei genomen für den erdnahen Schwarzwaldbauern u. andererseits ganz realistisch Engheit u. sittlicher Tiefstand des verherrlichten Bauern gezeigt. Ebenso aufdringlich töricht wird alles Bäuerische als poetisch, alles Civilisierte als unpoetisch bezeichnet. Auch wechseln Realistik u. banalste Sentimentalität andauernd. Auch geht es aus der Novelle in zusamenhanglose Klitterung von Familienchronik über .. Unbegreiflich, daß dieser Mann einen Namen, große Verbreitung, viele Auflagen gefunden hat. (Das Bändchen gehört zu einer Volksausgabe gesamelter Schriften, Bonz Stuttgart 1911).
Was ich am ausführlichsten hätte notieren sollen – aber immer fehlte die Zeit – u. was ich nun nur zusamenfassend skizziere, ist der * Labruyère dieser Tage. 9 Hier im Speiseraum, in der Kaulbachstr 65, in der Spelunke der Blumenschule (unten im Essraum u. oben in der Kleiderkammer) habe ich das zusamengeströmte Menschengemisch gesehen. Am auffallendsten die Dachauer in ihrer langstreifigen weißblauen Leinwand. Furchtbar verbitterte Äußerungen. Am wildesten klang es im Essraum der Blumenschule. Da erkundigte sich ein entlassener Soldat, der mich ausnehmend an den jungen * Lerch erinnerte – angeklebtes glatt pomadisiertes helles Haar, gelecktes Gesicht, Brille, dumm-freches Gesicht – was es mit Dachau auf sich habe u. mit den Plänen der Entlassenen. Er machte einigermaßen den Anwalt des 3. Reiches. Da[s] sei doch auch social gewesen. Was denn die zwei Entlassenen nun von der Zukunft dächten. Antwort: sie wollten nachhaus, sie wüßten, was sie zu tun hätten, das Lager bleibe, da kämen jetzt die hinein, die so gewütet hätten gegen die KPD. – Aber es gäbe doch gar keine KPD mehr in Deutschland, sagte der
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