Klemperer, Viktor
Verpflegung ins Haus strömten. Was wir aber noch sahen, waren Trambahnen: der Verkehr vom Ostfriedhof bis zum Sendlinger Tor war jetzt in Gang, eine herrliche Erleichterung für uns. Nun wieder zum Glas Lurke am Stachus u. wieder zum braven Bäcker in der [Erz]gießereistr. Dort packte E. Wichtigstes in die graue Handtasche, die andern Sachen überließen wir den guten Leuten zu treuen Händen bis auf Abruf, kauften ihnen noch reichlich Brod ab (das an vielen Stellen nicht zu haben, u. das auf unsere verfallenden Aichacher Marken nirgends sonst abgegeben wurde), wanderten zum Sendlinger Tor zurück u. fuhren triumphaliter mit der Tram zurück nachhause. Der Oberin berichtete ich so, als hätte ich ihr Entlastung durch die Simonschule verschafft u. das Gesuch an wesentliche Stelle geleitet. Ich sagte ihr weiter, wir würden morgen oder übermorgen abmarschieren, sie sollte mir nur vom Hausschuster die Schuhe nähen lassen u. uns ein Packet auf Abruf aufbewahren. Beides war ihr recht, u. zum Dank für meine Hilfe schenkte sie uns eine Tüte Semeln u. anderes Gebäck. – Jetzt ist Eva am Umpacken. Sie hält an unserm Wanderplan fest, während ich, wie gesagt, durch die Warnung des jungen Mannes erschüttert bin. –
Das sind unsere letzten Münchner Tage in Hauptlinien. Einzelheiten müssen nachgefüllt werden.
Die Oberin sagte: * der Frau traue sie einen so weiten Marsch eher zu als mir Wie alt muß ich aussehen!
Das Bild Münchens, das Grauen der Zerstörung, die Demütigung durch USA den Sieger hat sich mir täglich erneuert u. vertieft. Aber es ist doch im Wesentlichen (mit immer neuen Varianten) das gleiche geblieben wie am ersten Tage. Schauriger als völlige Zerstörung (als: dem Erdboden gleich – (ein Bild mehr, denn aus Schutt u. Geröll wächst schon Grünes, wiederholt zeigte mir E. zwischen Gräsern Kartoffelstauden) – schauriger ist eine allein stehen gebliebene Säule oder Wand, ein Stückchen schwebendes Zimmer mit etwas Hausrat[,] einer hängenden Lampe, einem Waschbecken, einem Ofen .. Grotesk, wenn in ganz toter Straße ein Haus unversehrt steht, grausig, wenn ein Haus unzerstört scheint u. beim näheren Hinsehen doch ein Cadaver ist. Grausig, wenn man aus relativ verschonter Straße auf einen Platz der absoluten Vernichtung tritt, wo die Mauerbrocken, die zerknitterten hängenden Metalldecken, die zerbogenen Riesenträger geradezu teuflisch wirken, ich meine: von Teufelshänden zerbogen, zerbrochen, herumgeschleudert, an Fäden aufgehängt. (Zeit fehlt, das jetzt auszuführen. Auch glaube ich: a) diese Bilder haften in mir, b) andere können sie besser schildern. Mein Auftrag!) .. Das Durcheinander der Anschläge u. Plakate des 3. Reichs (der tückische Judenbolschewik = Soldat: Das droht uns, wenn wir versagen!) u. des Military Governments. Das Hakenkreuz in die Säulen des schwer beschädigten Deutschen Museums gemeißelt. – Am Rathaus hängen nebeneinander 3 Fahnen: Die englische, amerikan., französische; die USA in der Mitte sehr viel größer als die Alliierten rechts u. links. Auf oder an Militärwagen tauchten gelegentlich auch die belgischen Farben auf. Zwischen den zahllosen Militärwagen sehr zahlreich die Laster voll abtransportierter Ausländer. Die polnische Kolonne war die längste u. ostensibelste, aber Einzel kolonnen wagen u. kleine Kolonnen mit verschiedenen Flaggen sieht man ständig. Unter den Passanten jeder dritte Mann mit Rucksack, mit Tornister, mit Koffer, mit feldmarschmäßiger Ausrüstung – hier versickert die Armee nicht mehr, hier fließt sie in breitem Strom ab. Neu war mir die Zusamenballung der 145 Mann vor der Blumenschule. Va à suivre 1 .
Freitag früh, vor 7 Speiseraum 25 Mai 45 .
Dies ist der angenehme Unterschied gegenüber unserer Situation vom 3 April (Aufbruch von Falkenstein): Der Kopf steht nicht mehr auf dem Spiel. Und dies der unangenehme: damals hatten wir keine Wahl, wir mußten fort, während wir diesmal wählen müssen. Den Kopf riskieren wir nicht, aber die allergrößten Peinlichkeiten, wenn wir die falsche Wahl treffen: werden wir beim Wandern geschnappt, kann man uns rücktransportieren, vielleicht auf Wochen in ein Camp sperren. Dann sind wir noch schlechter daran als hier. Erneuert man uns die Marken nicht, dann müssen wir Hungers halber kapitulieren. Widerum: bleiben wir, so bekomen wir, wie sich gestern ergab, auch hier Markenschwierigkeiten – wir sollen u. können nicht nachweisen, daß wir regulär abgemeldet
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