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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Dumme. – Wildes Hohngelächter. – Bei uns am Tisch in ihren Kitteln: der Junge, der von 16–20 Jahren gesessen hat. Bruchstück: ... man mußte es aufkriegen, der-Mann hielt dir den Revolver an die Hand. Einer konnte es wirklich nicht, soviel er zog. Er schoß ihm den Finger ab. Andern wurden die Zähne ausgeschlagen .. (Jetzt Anschläge in den Straßen, Dachau-Häftlinge sollen sich zur Untersuchung melden, falls sie beschädigt worden sind.) Der ursprüngliche Kamerad dieses Jungen, mit dem er ständig Karten spielt, ist ein schweigsamer winziger fast zwerghafter Mensch, mit merkwürdig idiotischem zugleich auch verkniffen schlauem Gesicht. Scheint auch Jude. Jetzt sind hinzugekomen ein Knabe von höchstens 15 Jahren, ganz weiche Züge, übergroße Augen, aufgeschwemte krankhaft blasse Backen, still vergnügt, ganz im Dachauleinen. Sodann zwei Leute in Civil, Ende zwanzig etwa. Der eine, Hamburger, kleine funkelnde Augen, fanatisches Gesicht. Einmal als sich Flüchtlinge über Hunger beklagten, brach es aus ihm heraus, ohne Geschrei, ganz sachlich u. leise: die Entente sei viel zu human. 40 % des deutschen Volkes müßten ausgerottet werden. Der andere ein überstarker Kerl, breit in Schultern, massig in Schenkeln, wie ein oberbayrischer Bazi, in einer guten Uniform u. guten hohen Stiefeln, mit Ringen, Armband, mit Goldplomben im gepflegten Gebiß. Er erzählte mir – die Hälfte davon wird wahr sein, vieles ist nicht recht klar. Sein Vater sei reichster Viehhändler bei Kiel gewesen, Jude. Als der Vater bespuckt wurde, habe er, filius, den Spucker zutode geprügelt. Seitdem verfolgt. Auch wegen Rassenschande, die er nicht begangen habe – falsche Zeuginnen. Auch wegen Hochverrat, weil er dem Bluthund * Hitler Tod angedroht habe. 3 x zum Tode verurteilt, zu 15 Jahren Zuchthaus begnadigt, in verschiedenen Kz s. In Auschwitz habe er gesehen, wie die Leute in Gaskamern getrieben wurden, er habe sich sie 60–90 Sekunden schreien hören, er habe mit Gasmaske an der Herausschaffung der Leichen mitarbeiten müssen. (Genaueste Beschreibung des Vorgangs, die er aber natürlich auch gehört haben kann.) Als guter Arbeiter, als vorzüglicher Koch sei er überall durchgekomen. Die Uniform habe er sich heimlich verschafft u. die letzte Zeit unter dem Leinenanzug getragen. Er sei auch in Warschau eingesetzt worden. Usw. usw. – Am gleichen Tisch sitzen häufig Wehrmacht-Entlassene. Ein sehr biederer Aachener, Bohrer, schwer am Stock gehend, Schenkelschuß am 2. Mai erhalten, – der Landser, der mir den Pinsel lieh, inzwischen ist mein Pinsel gefunden u. der Landser fort – wandert nach Aachen weiter. Ein langer Mensch mit eben verheiltem Lungenschuß wartet hier. – Dann die Civilisten. Eine Breslauerin mit zwei kleinen Mädchen, ganz proletarisch. Sie hält die Kinder (u. erzählt es auch) buchstäblich zum Betteln an. Die Kinder bitten in Bürgerhäusern um Essen, essen etwas an Ort u. Stelle, bringen etwas nachhaus. Die Frau sagte: Was ist eigentlich Gestapo ; ich habe das nie gehört. Ich habe mich nie um Politik gekümmert, ich weiß nichts von den Judenverfolgungen .. etc. Ist dieses Nichtwissen wahr oder erst jetzt eingetreten? Sie sagt von den Dachauern immer nur: Die Sträflinge, sie unterhält sich mit ihnen, aber sie hält doch ängstliche Distanz. Ihr Vater[,] sagt sie, sei Sozdem. gewesen, aber nicht Comunist, ihr Mann – sie weiß nicht wo er steckt – unpolitischer Mechaniker. Was an diesem Nichtwissen ist Wahrheit? – Ähnliche Rätsel gibt mir die Familie Apostel aus Oppeln auf. Das graue Männchen ist schon recht verblödet, spricht noch von Reichsregierung, scheint nicht mehr ganz beisamen.
    Die * Frau dagegen, jünger, ist sehr agil. Ihr so sehr verehrter Chef, der Justizrat * Steinitz, war doch ein so guter Mann, es sind doch solche Härten vorgekomen. Aber dann war sie im Polizeidienst, mit 190 M. Nettogehalt, Angestellte, aber mit Beamtenarbeit ... aber selber ganz unpolitisch, u. von alledem hat sie gar nichts gewußt, u. die Dachauer sind auch für sie Sträflinge, u. vor den Russen hat sie Angst, u. von * Hitler sagt sie noch immer der Führer. Da sie nun meine Stellungnahme u. Position kennt, ist sie natürlich sehr judenfreundlich u. sehr vorsichtig. – Noch die Figur des netten 19jährigen in der Kaulbachstr. Mischling aus Mannheim, am Atlanticwall gebaut, vonverschleppt, Vater in Buchenwald, ob tot oder lebend? Mutter in Mannheim – oder wo? Er selber Abiturient, wollte so gern

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