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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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aufgebrauchte Nerven – Tränen. (An zwei aufeinanderfolgenden Tagen zweimal dieses Schauspiel weinender Männer). Wir konnten nicht zu dem Begräbnis gehen, das hätte ja auch den Leuten gefährlich werden können. Ich schickte einen Kranz und einen Trostbrief.
     

 
    10. Juni, Donnerstag Mittwoch
    Wenn ich nur einen Zugriff bei * Rousseau fände. Am Mono- und Biographischen habe ich mich satt gelesen, ich will nun tiefer in die eigene Textlektüre. Es ist wohl schon alles gesagt. Aber vielleicht gewinnt einiges durch die heutigen Erlebnisse neues Aussehen. Mir fehlt nur alle Zuversicht und aller Auftrieb.
    Vor ein paar Tagen schickte * Rector Kleinstück (mutig!) seinen * Sohn, Obersekundaner 1 im Vitztum, zu mir. Der Junge interessiere sich für französische Literatur, er habe meinen * Corneille gelesen, ich solle ihn weiter beraten. Ein ganz kindlicher Junge, übrigens ohne alle franz Sprachkenntnis, da man im Vitztum erst in O II mit Frz. beginnt (ein pädagogischer Nonsens). Mir war hochinteressant, was er von der Gesinnung seiner Klasse erzählte, auch sein Sprachgebrauch dabei. wir sind alle in der HJ; die meisten würden liebend gern nicht dabei sein ... Sie sind zu 60, 80 und 100 % gegen die Nazis, nur die drei Dümmsten, die keiner achtet, sind ganz dafür Auf meine Frage, ob die andern deutschnational seien (wie man es vor 1933 im Vitztum war[)], die ernste und sofortige Antwort: Nein, liberalistisch! Ich erklärte ihm lachend, was ein Pejorativ sei, und dass er doch offenbar liberal habe sagen wollen. Ja, gewiß, aber man höre doch heute immer die Form liberalistisch. – Die nächste Generation wird der Partei nicht gehören, aber ich werde den Umschwung nicht mehr erleben.
     

 
    11. Juni, Donnerstag.
    Immerfort die * Rousseauqual. Jetzt sitze ich über den Confessionen, 1 die mir durch die Monographien (und frühere eigene Lektüre) völlig vertraut sind.
    Über den Besuch * Spiegelbergs 2 cf. den beiliegenden Geburtstagsbrief an * Blumenfeld. 3 Ich füge hinzu, was er mir erzählte. * Delekat, der Theologe, ist vom Amt suspendiert. * Mutschmann liess ihn persönlich kommen und verlangte, er solle seine Vorlesungen mehr im Sinne des Nationalsoz. halten. D. erwiderte, er dürfe kein Parteiprogramm befragen und müsse seinem Gewissen folgen. Darauf habe der Statthalter die Audienz mit den drei Worten beendet: Sie sind frech![,] worauf die Suspendierung erfolgte. Es werde jetzt die ganze kulturwiss. Abt. aufgelöst, dagegen bleibe eine staatswissenschaftliche Sektion, und in ihr hervorgehoben und gesichert * Stepun. Ich erzählte, was mir von St. berichtet worden sei. Ja, sagte Spiegelberg, die alte * Frau St., die Mutter ist eine sehr intrigante Dame und hat immer einen Kreis junger Leute um sich, die ganz offenbar Spitzeldienst tun, auch im Kolleg der Professoren. St., der Russe, Offizier im Weltkrieg gegen Deutschland, Komödiant, Sophist, geistreicher Causeur, alles, nur kein Mann der Wissenschaft, ist durch das leidenschaftliche Eintreten seines jüdischen Freundes * Kroner, dazu durch * Uhlich zu seiner Professur gekommen.
    Am 5. Juni sahen wir im Capitol einen wunderschönen Film []Bosambo. 4 Der Dialog englisch, nur wenige erklärende Stichworte unterhalb der Bilder. Die Engländer als väterliche Friedensbringer unter den Negern, Raub und Mord zwischen den Stämmen, wenn sie sich überlassen sind, ein böser Häuptling, ein guter, tapferer Englandtreuer: Bosambo. Seine Ehe, sein Junge, er und die Gattin am Marterpfahl, klingt nun ganz und gar nach furchtbarem Hintertreppenkitsch, teils für Tertianer, teils für rührungsbedürftige Dienstmädchen. Die ungemeine Kunst des Films und der Hauptacteure aber besteht darin, dass alle üblichen Kampfscenen, alles Clichégetue fortfällt, dass auch alles Ethnographische, Palaver, Kriegstänze etc. gar nicht didaktisch wirkt. Sondern alles ist einfach und natürlich gegeben. Ich weiss nicht ob der Basambodarsteller * Paul Robeson 5 ein amerikanischer Neger oder ein Weisser ist. Er spielt mit einer Mischung aus natürlicher Würde, gutmütigem Humor, freundlicher Spitzbüberei und List, die ganz entzückend ist. Prachtvoll, wie er seinem kleinen Sohn den Kriegstanz beibringt, sehr ernst und dann wieder mit beglücktem und zärtlichem Lächeln. Reichlich ebensogut wie als Schauspieler ist er als Sänger mit einem mächtigen Bass. Die Gesänge in ihrer Eintönigkeit, Kriegslied beim Vorbeimarsch der Krieger, Arbeitslied beim Rudern, schienen mir sehr

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