Klemperer, Viktor
der Carlo Revanche schuldig, da wir sie im April in Grillenburg im Stich liessen.
Den ersten Teil der Leipzigfahrt legten wir nur langsam zurück. Es kam ein Gewittersturm, wir mussten das Verdeck hochnehmen, Regen benahm Sicht, die Strasse Wilsdruff–Meissen war schlecht, ich musste tanken. Danach wurde das Wetter gut und hielt den ganzen Tag; wir konnten den Wagen öffnen und offen lassen. Wunderschön die Flussstrecke hinter Meissen,
der Strom unmittelbar neben uns, Sandberge drüben, grüne Weite zur Linken. Wir hielten und sahen auf die Burg zurück. Im Durchfahren der Stadt hatte ich nichts sehen können. Dann eine lange Strecke bloss der Genuss und die Anspannung der Fahrt. Ein Stück Hochebene, ein Waldstreif, einzelne hohe Bäume, Curven, Weitblicke, Verengungen, immer der sehr süsse Geruch gemähten Grases, immer der Gesamteindruck von Frühling, Maiwuchs an den Nadelhölzern, mitteldeutschem Hügelland, und immer Strasse und Curven. Diesmal fuhr ich lange Strecken im 60 km.-Tempo. Aber in Oschatz, kurz nach zwei hatte ich doch einen Augenblick des Nichtdaseins, ähnlich wohl wie damals, als mich * Michael weckte: Das hätte Tote gegeben! Ähnlich, nicht ganz so schlimm; ich hatte etwas tranig nach einem Stra[ a ]ssenschild gesehen und bemerkte plötzlich, dass ich auf die linke Seite und dicht vor einen herankommenden Motorfahrer geraten war. Wir bremsten beide ohne Hast in genügender Entfernung, aber es war doch ein Memento für mich. Da in unmittelbarer Nähe ein das grosse s und elegante s Caféhaus * Zierold lag, so machten wir hier schon ausgibige Kaffeerast, eine volle Stunde. Danach bin ich reichliche sechs Stunden eigentlich überhaupt nicht vom Steuer gekommen, teilweise sehr rasch gefahren und bis zuletzt frisch geblieben, von schweren Genick-, Schulter- und Armschmerzen und angegriffenen Augen abgesehen. Aber diese Rast war daran schuld, dass wir * Tr. Ö. nicht antrafen. Eigentümlich die Anzeichen der nahenden Stadt: Verstärkter Wagenverkehr, Radlerströme, Fussgänger, die erste Elektrische. Die Stadt selbst gab mir nichts. Einmal tauchte das Buchhändlerhaus in der Hospitalstr. auf, einmal ein Firmenschild Conditorei * Platen, 1 einmal das plumpe Völkerschlachtsdenkmal. Sonst ein Hin und Her durch ausnehmend öde lange Strassen ohne Bäume und Physiognomie. (Schönes Dresden!) Orienti[e]rung an einer Tankstelle. Zur Bussestr. * E. ging hinauf. Eine grosse verzweigte Familie wohnt dort kleinbürgerlich. Trude sollte vor zehn Minuten mit einer Schwester spazieren gegangen sein, wahrscheinlich in die Laubencolonie der Parthegärten. Wir suchten diese Laubencolonie auf. (Wie ich da drin auf engem Raum mit Rückstoss wendete, das war meine Grosstat in Leipzig. Ich sah die Laubenanlage und ein gestopft volles kleinbürgerliches Restaurant. Eva ging auf Suche und fand eine dritte Schwester, die beiden andern waren mit ihren Abendbemmen ausgezogen und wurden erst gegen neun zurückerwartet. Also hinterliessen wir bedauernde Grüsse und fuhren gegen sechs in Richtung Grimma zurück. Ein besonders schöner Blick ergab sich bei Leisnig (Rochlitz-ähnlich), wohin wir wider Willen verschlagen wurden. Tiefstehende Sonne verursachte mir trotz der dunklen Brille Augenentzündung – alles funkelt, jede Lenkstange und Laterne entgegenkommender Radler usw., die Strasse ist zugleich flimmernd und verschleiert, das ist mein ständiges Leiden und quält zusammen mit Genickschmerzen in den nächsten Tag hinein. Von Kesselsdorf an das andere reichlich ebenso böse Leiden der Dunkelheit und der entgegenkommenden Scheinwerfer. Um ½ 10 zu Haus, waren wir eigentlich nicht traurig, allein zu sein.
Am Pfingstmontag regnete es den ganzen Tag heftig, erst gegen Abend sanfter und mit Pausen. Da machten wir eine kleine Spätnachmittagsfahrt. Bei Hainsberg in steilen engen Curven ins Waldgebirge aufwärts. Oben bei Somsdorf der herrlichste Blick: ein waldgefülltes Loch unter uns, grünes Gebirge, Ortschaft und Kirchturm auf halber Höhe gegenüber. * E. hatte sich des Platzes von einer Blaufahrt her erinnert.
Mittwoch, 3. Juni.
Gestern Nachmittag also mussten wir die * Carlo in der Albrechtstr. abholen, nahmen auch die * Anelies Lehmann mit, [T]ochter der Aufwartefrau, die etwas schwärmerisch an * E. hängt, neulich confirmiert wurde und sehr klein und kindlich ist und bei dieser Menschenfülle, die dann über das Abendessen anhielt, war d[a]s Vergnügen ein etwas alteriertes, jedenfalls anstrengendes.
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