Klemperer, Viktor
Aber die Fahrt, eine Schleife über etliche 80 km. bot landschaftlich und technisch allerhand Schönes – nur wurde ich diesmal von der Sonnenblendung hart mitgenommen. Wieder So[ h ]msdorf mit Ausblickpause. Dann vielfach auf Feldwegen und schmalen Waldgebirgsstrassen und -Curven über Höck[en]dorf nach Frau[e]nstein und Klingenberg. Von sehr großer Höhe der malerischste Blick, durchaus ein componiertes Gemälde, auf ein Stück der Talsperre. Links und rechts, portalartig Hochwald, in der Mitte eine Etage tiefer ein Streifen Laubkronen, ganz unten ein Stück Waldsee, dessen Fortsetzung man ahnt, ganz eingefasst von Waldung, genau gegenüber ein Hügelzug. Unser Standpunkt: die Höhe einer Curvenstrasse, welliges Wiesenland zwischen uns und dem nahen Wald. Dann wieder durch viele Waldcurven abwärts nach Malter, lange den Sperrsee entlang, über die Brücke zur grossen Strasse nach Dippoldiswalde und Dresden. Es fiel mir sehr schwer, nach dem Essen die Carlo und auch * Frau L. nach Hause bringen zu müssen, mitten durch die ausnehmend dunkle und dabei belebte Innenstadt bis zur Fürstenstr. Böse Zugabe war noch, dass die Batterie wiedermal nachliess. Alles in allem, mit der Bremerstr. am Vorm., bin ich gestern wieder über 120 km. gefahren.
Heute so mitgenommen, dass ich den Wagen gar nicht aus der Garage nahm und nur eben jetzt ein paar E[i]nkäufe am Chemnitzer Platz zu Fuss machte. Ich las den dritten Band von * Ducros aus und fühle mich * Rousseau gegenüber so leer wie zuvor. Ich weiss nicht, was daraus werden soll.
Der Vormittag brachte ein unangenehmes und kostspieliges Erlebnis. * Michael, der mich eingefahren hat, den ich längst als Hysteriker und wohl auch Trinker, im übrigen anständigen Menschen kenne, der im Kriege Flieger, dann Jahrelang erwerbslos war, jetzt als Monteur bei den Armeefliegern arbeitet, ein Mann von 39 Jahren, kam und brach sofort in heftiges Weinen aus. Er wolle sich nur aussprechen und verabschieden[], er sei fertig, er müsse sterben, er habe das Rasiermesser bei sich, er könne wöchentlich 15 Mark abzahlen aber nicht 150 auf einmal aufbringe[n], sein Ehrenwort, er müsse sterben, er ertrage es nicht mehr, sein Mädchen, verbotener Eingriff, 350 seien gezahlt worden, der Rest seit Mai fällig, er müsse sterben seine Lebensversicherung, und Thränen und Rasiermesser und Abschied und 15 Mark wöchentlich und so eine zermürbende Stunde lang. Ich sagte ihm, dass es sich um eine louche Erpressung handle, und dass er nichts zu befürchten habe, nichts beruhigte ihn. Ich holte mir * Eva zu Hilfe. Schliesslich bekam er von uns einen Scheck über 75 M., behauptete, den Rest der Schuld an den Mann, den er nicht nennen dürfe würde er in diesem Monat mit seiner Braut zusammen abtragen, danach mir das Geld in Wochenraten zurückzahlen, liess sich noch 22 Pfennige für die Strassenbahn geben und zog getröstet zu seiner Arbeit – wahrscheinlich vorher zu seinem Lieblingsgetränk, einem warmen Korn. Gerade heute hatte ich einen trostlosen Finanzüberschlag gemacht, ich bin mit dem Reservegeld von der Iduna fast zuende und weiss nicht, wie ich mit der Pension allein den Wagen beibehalten soll. Und nun noch 75 M. weniger, die ich gewiss nicht wiedersehe. Es heißt immer, Guttaten trügen ihren Lohn in sich. Mir ist gar nicht sehr belohnt zumute. Ich war gewiss der Dumme in dieser Sache. Aber man weiss nie, was einem Hysteriker einfällt. Wahrscheinlich, wenn ich beim Nein geblieben wäre, hätte er zwei warme Korn zur Nervenstärkung getrunken. Aber eben nur wahrscheinlich. Ein bisschen und gar kein so kleines bisschen, war auch ganz gemeine Angst vor einem Irrsinnigen mit im Spiel. Jedenfalls bin ich meine 75 M. los. Ich kann mich aber längst nicht mehr so um Gelddinge sorgen wie in früheren Jahren. Bei der ständigen Unsicherheit bin ich ungemein abgestumpft. Ich male mir nur aus, wie viele Liter Benzin oder Apfelbäume für den Garten für dieses Geld zu haben gewesen wäre. Und der Mann dankt es mir nicht; er denkt, ich bin reich, ich habe ja ein Scheckbuch.
9. Juni, Dienstag.
Am Donnerstag kamen die jungen * * Köhlers verweint zu uns. * Die Mutter ist ihnen nach einer Operation an Herzschwäche gestorben, erst 52 Jahre, gute, einfache, sehr freundliche Frau. Dem * Vater droht fristlose Entlassung, wenn sie mit uns verkehren, kleiner Eisenbahnbeamter in einem vielbewohnten Dienstgebäude. Ich möge ihn[,] * Johannem nicht zu sehr verachten, Gewissensconflikt,
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