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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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man es nur oft genug sagt, wird es geglaubt, und schliesslich werden die Schulkinder lernen, dass * Adolf Hitler die Kriebsteinsperre geschaffen hat. – Zurück fuhren wir einen weniger halsbrecherischen Weg, über Mittweida und Hainichen (das diesmal gar keinen malerischen Anblick bot). Es sollte nach Nossen weitergehen, aber dann waren wir miteinemmale in Freiberg. Wir werden diese Strecke der Irrungen möglichst bald noch einmal fahren.
     

 
    29. August, Sonnabend.
    Die spanischen Kämpfe sind immer heftiger und immer deutlicher zu einer mehr als spanischen Auseinandersetzung geworden. Vor ein paar Tagen ist die zweijährige Dienstzeit 1 verkündet worden. So wird die Spannung von Tag zu Tag stärker – aber das geht doch nun schon das vierte Jahr so und ähnlich – warum soll es nicht explosionslos noch ein Dutzend Jahre weitergehen? Übrigens hab ich in Kriebstei[n] neulich auch an das deutsche Heer gedacht. Die Republik liess Deutschland bekanntlich wehrlos, und * A. H. schuf das neue Heer. Nur dass die Republik in der Reichswehr jeden Mann zum Unteroffizier und jeden Unteroffizier zum Leutnant ausbildete und damit den Rahmen der kommenden Ar[ m ]mee schuf und sie ermöglichte; nur dass die Republik in Heimlichkeit über die erlaubten 100 000 Mann hinaus ununterbrochen Leute ausbildete und damit das Schwerste leistete: den Anfang des militärischen Neuaufstiegs. In den Anweisungen an die Hochschulen, geheimen Schreiben, die ich als Senator fünf Jahre zum Lesen bekam, in den vertraulichen mündlichen Berichten während der Senatssitzungen, habe ich das verfolgen können. Wer wird einmal davon Zeugnis ablegen? (Wenn ich doch noch dazu käme, meine Vita zu schreiben!)
    Am Mittwoch waren wir zum Abendbrod bei * Frau Schaps und trafen dort * * Gerstles: er war im Begriff eine Geschäftsreise nach Paris anzutreten. Es ist mir an G.s peinlich, dass sie in der Alternative Nationalsozialismus–Bolschewismus den N. vorziehen. Mir sind beide zuwider, ich sehe ihre enge Verwandtschaft (das übrigens tut * Gerstle auch), aber die Rassenidee des N. scheint mir das allertierischste (in buchstäblicher Wortbedeutung). – Ich sah ein Bild * Jule Sebbas in seinem Schiffbedarfsladen in Haifa. – G.s erzählten von einem leichten Autozusammenstoss der * Frau Salzburg in einer oberbayrischen Curve. Beide Teile haben Kotflügelschaden, schieben sich die Schuld zu, beschimpfen sich heftig und angstvoll, bis sie sich gegenseitig als Nicht-Arier erkennen: sofortiges beiderseitiges Aufathmen der Erleichterung, raschester Friedensschluss ... Ein ziemlich zufriedener Luftpostbrief der * * Blumenfelds aus Lima wurde verlesen. Von einer uns bekannten Freundin * Grete Bl.s wurde erzählt, dass sie in Johannesburg einen Salon de beauté aufgemacht habe. Von * Erika Ballin-Dreyfuss wurde berichtet, dass sie auch schon in Südafrika ihr Auskommen finde, während ihr Mann noch in London am Nachliefern des ärztlichen Examens arbeite. So viele Leute bauen sich irgendwo eine neue Existenz auf, und wir warten hier mit gebundenen Händen. Heute spricht hier * Streicher. 1 Seit vielen Tagen wird diese Grosskundgebung[] mit allen Methoden der Wahlen vorbereitet: Plakate, breite Inschriftbänder quer über die Strassen, Umzüge, Trommler und Sprechchöre. Anzeige, es werde am Königsufer ein Wald von hundert Fahnen aufgebaut, davor ein 11 Meter hoher Turm; von ihm aus, Scheinwerferbeleuchtet, spreche der Frankenführer und Stürmer. Die Zeitung bringt heut sein Autogramm: Wer mit dem Juden kämpft, ringt mit dem Teufel. Es ist mir oft sehr zweifelhaft, ob wir das dritte Reich lebendig überstehen werden. Und doch leben wir auf alte Weise weiter. Trotz der furchtbaren Geldnot, die immer würgender wird, haben wir nun auch Lange den Auftrag gegeben, die Terrasse über der Garage zu cementieren. Das kostet wieder 50 Mark. Meine Angst, wie ich weiter durchkommen soll, wird immer stärker; aber der Bau kann einfach nicht in so unfertigem Zustand dem Winter überliefert werden. Schlimmstenfalls muss eben der Zahnarzt warten.
    Aus Geldmangel fahren wir nur noch selten, jeder kleinste Schaden am Wagen ist eine Verzweiflung. Neulich drang ein Nagel in einen Reifen, heute versagte die Batterie und musste neu geladen werden.
    Wir haben versprochen, morgen in das Dorf Bucha bei Oschatz zu fahren, wo * Trude Öhlmann mit ihrem * Jungen in So[mm]erfrische sitzt. Das mag hübsch werden, kostet aber an zehn Mark.
    * Anna Mey, die Sekretärin in der T. H.

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