Klemperer, Viktor
telephonierte nach vielmonatiger Pause an, ob sie uns einmal besuchen dürfe. Ich sagte, mir seien ihre Vorschriften bekannt, sie solle sich nicht schädigen, ich wünschte nicht, dass man mir Opfer bringe.
Wir waren im Kino. * Kiepura: Im Sonnenschein. 2 Er ist Wiener Taxichauffeur, wird als Sänger entdeckt, singt Boheme und einen ganzen * Turandotakt, 3 heiratet schliesslich seine Braut und Veilchenverkäuferin, hat einen Schlager, eben Im Sonnenschein – in allem ist natürlich ein bekanntes Schema; aber immer wieder singt der Mann aufs schönste, spielt aufs gefälligste, hat einen ausgezeichneten und witzigen LLguffeur Régisseur und ausgezeichnete Mitspieler. Die Veilchenverkäuferin, * Friedl Czepa, 4 ist uns s[c]hon einmal in einer Wiener Rolle in einem bedeutenden * Wesselyfilm begegnet ... Denselben Abend sah man in der Wochenschau spanische Kämpfe; es machte mir grossen Eindruck, wie Volksfrontler (rote Horden) ohne Stalhelme deckungslos in offener Schützenkette vorgehen.
Seit dem April habe ich nun * Rousseau studiert und ihn so ziemlich ganz gelesen. Ich fühle, dass mir Lektüre nichts mehr geben kann; ich muss mich nun ans Schreiben machen und alle Fragen nach dem Zweck der Mühe zurückdrängen.
1. September, Dienstag.
Auto-Ärger wie in der ersten Zeit. Die Batterie, der Vergaser. So lange wir nicht bessere technische Kenntnisse, Fertigkeiten und Instrumente haben, sind wir dem kleinsten Zwischenfall rettungslos ausgeliefert. * Michael hatte den Wagen nach seinem ersten Streik am Freitag in Ordnung gebracht, gleich darauf versagte die Batt[e]rie, ich brachte das Auto mühselig zu * Gasch; am Sonntag um zehn wollten wir zur * Trude Öhlmann fahren, und weder Vergaser noch Batterie functionierten. Wir sassen bei schönstem Wetter erbittert zu Haus; ich musste abtelegraphieren. Hierbei etwas Komisches. Die Post in der Bienertstr. war geschlossen, ich gab das Telegramm telephonisch beim Hauptamt auf. Nach Abnahme sagt das Fräulein am Apparat: Darf ich fragen, wie es bei Ihnen geht? Es war * Frl. Stein die Freundin * Ellen Wenglers, die uns hier schon besucht hat. Sie tröstete mich dann noch. Aber bis heut steht der Wagen unbrauchbar in der Garage. ... Und die Garage, d.h. die Terrasse darüber ist nach wie vor unfertig. Das Cementieren würde 50 Mark kosten; die kann ich nicht aufbringen. Als wir neulich beim Tanken * * Langes trafen, gab ich ihm in heftigem Entschluss Arbeitsauftrag. Ich dachte, mit äusserster Sparsamkeit müsse es sich ermöglichen lassen. Anderntags stand in der Zeitung, dass die neuen Kirchensteuern am 10. September eingefordert werden. Sie werden mich etwa 60 M. kosten. Wir mussten * Lange wieder nach Hause schicken.
2. September, Mittwoch.
Heute habe ich das * Rousseaucapitel, also den zweiten Band meines achtzehnten Jahrhunderts zu schreiben begonnen. Ein aussichtsloses und trübseliges Beginnen; aber es beiseitezuschieben würde mich noch mehr bedrücken, und meine Zeit lässt sich ja doch nicht nutzbringender verwerten. Hätte ich irgendeine Möglichkeit des Geldverdienens, so würde ich sie ausnutzen; aber ich sehe keine. Den ersten Band begann ich am 11. 8. 34; die eigentliche Arbeit daran war am 29. 12. 35 mit dem Abschluss des * Diderotcapitels fertig; aber Abschrift und Durchfeilen dauerte noch bis tief in den März. Dann nahm ich die Rousseaulektüre auf. Inzwischen hat die Affaire * Marcus meinen Hoffnungen den Rest gegeben: selbst wenn das Regime und der Arierparagraph fielen, würde ich das Werk in diesem Umfang nicht veröffentlichen können. Ich kann es aber nicht knapper fassen, ohne ihm das zu nehmen, was gerade mein Eigenes daran ist. Also weiter: warum soll nicht einmal ein Wunder geschehen? Wenn nur das Opus da ist an dem es geschehen kann.
Ich las in den letzten vierzehn Tagen vor: * A. T. Harbort (Amerikaner oder Amerikanerin) Oel auf die Lampen Chinas, 1 ein ausserordentlich fesselndes Buch, sachlich und doch dichterisch. Der Angestellte, voire Sklave, einer amerikanischen Petroleumgesellschaft, das ungeheure Anderssein der Chinesen, die Fremdheit ihrer Ethik. Das Leben vor und während der Revolution. Das Buch ist unlyrischer, weniger verklärend als die Chinaromane der Buck. Aber in seinem Realismus nicht undichterischer, auch nicht chinesenfeindlicher; es arbeitet nur die Einsamkeit des Weissen unter den Chinesen und das Elend der gewaltsam verwestlichenden Revolution heraus.
5. Sept., Sonnabend.
Gestern endlich in *
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