Klemperer, Viktor
Jahren zu jung zum Bauernführer – und dieser ungeheure Prunk in Berlin bei den Olympiabauten, als ob wir im Golde schwimmen – und der Mangel an Fleisch ... Ich fragte: Sind Sie Nationalsozialist? Er, vorsichtig, wie er wohl glaubte: Erzwungenermaßen, ja. Der Mechaniker * Michael, auf dem Militärflugplatz angestellt und vereidigt: Mit dem Fallschirm würde ich abspringen, um zu den Russen überzugehen; eine rote Fahne würde ich mir herstellen, und wenn ich die Pulsader aufschneiden müsste, um ein Tuch zu färben!
Gestern Abend nach sehr langer Pause * Annemarie und * Dressel bei uns. In unveränderter Stimmung; auch sie kennen niemanden, der zufrieden wäre; sie freilich sind ziemlich hoffnungslos.
Neue Nachricht * Martas über * Wallys Krankheit. Sehr düster, fast hoffnungslos. Widerwärtig ist mir die eigene Herzenskälte wider Willen. Immer das gräuliche: Hurrah ich lebe, dazu das Rechnen, wielange Zeit mir noch vergönnt sein mag. Und als Neuestes dazu die Frage, ob und wie man mit dem Wagen zum Begräbnis nach Berlin fahren würde. Ich sehe das in allen Einzelheiten vor mir, es ist eine Art Zwangsvorstellung, von der ich nicht loskomme. Dabei habe ich wirkliches Mitleid mit * Wally, die mir freilich seit langen Jahren ganz fremd geworden ist.
Wir machten gestern Nachmittag eine relativ kurze Spazierfahrt zum Versailleskreuz bei Pulsnitz und nach Pulsnitz herein. Der prachtvolle Weit- und Rundblick, eine Art Riesenkreis mit Bergrändern, mit Wellen in seiner Tiefe, mit vielen Einzelorten (besonders hervortretend Stolpen auf seinem Sonderhügelchen. Ich habe von dort oben ein ähnliches Gefühl, als wenn ich auf das Meer hinausblickte, und das ist der eigentliche Genuss daran. Das Meer ist die Weite, die Freiheit – ich ziehe es immer wieder dem Gebirge vor.
Das ist nun einfach berichtet; aber die Fahrt der vorangehenden Woche – (dazwischen war lange Fahrpause, wir sparen sehr) – lässt sich weniger genau wiedergeben. Am Sonntag dem 16. wollten wir zur Kriebsteinthalsperre, verfuhren uns rettungslos kehrten halbwegs um und kamen auf unmöglichen Feld-und Dorfstraßen nach Nossen zurück. Es war sehr hübsch man steckte mitten in der einfachsten sächsischen Landschaft, mitten zwischen den tausenden geschichteten Ährenhaufen, mitten in herrlichen Gras-und Waldgerüchen, aber das Ziel war verfehlt worden. Dabei ging die Irrfahrt über mehr als 100 Km. Am nächsten Morgen war schönstes Wetter, wir rüsteten uns mit Suppe und Kaffeeextrakt aus, fuhren vor elf fort und ohne anzuhalten nach Nossen, wo wir diesmal das richtige Loch fanden, und weiter nach Waldheim. Im Raum zwischen diesen beiden Orten waren wir tags zuvor umhergeirrt, hatten entlegenste Dörfer passiert, hatten von hoher Randstrasse, aus Waldung kommend, Hainichen malerisch in einem tiefen Kessel liegen sehen. – Ganz plötzlich ist man aus Waldheim heraus und an einem stromartig breiten Wasser zwischen bewaldeten Ufern. Das ist wohl das Endstück der Talsperre. Ein belebtes Schwimmbad ist hier. Wir hielten, und * E. nahm ihre Suppe. Dann ging es eine Weile den Flussweg entlang, dann zog sich die Strasse waldwärts, und plötzlich hiess es: Ersten Gang einschalten!, und eine ungemein steile Steigung begann. Im Fahren hatte ich einen Schimmer von einem Schloss im Walde, gleich darauf lag ein prachtvoller Waldsee vor uns, die eigentliche Sperre. Grosses Restaurant, ungeheurer Parkplatz, [A]nlegeplatz für Motorboote, ein Schwimmbad mit lautem Betrieb, ein Segelboot (alles zuerst sehr hübsch von hoch oben gesehen. Der See wirkt deshalb so gewaltig, weil man Seitenteile des Wassers mehr ahnt, als wirklich übersieht, und deshalb so schön, weil er überall eng von Wald umschlossen ist; man wird bald an den Wannsee und bald an eine Rügensche Landschaft erinnert – die Waldung ist aus Laub- und Nadelbestand gemischt. Nach dem Kaffee machten wir einen Spaziergang dicht über dem Wasser durch den Wald zu der ungeheuren Sperrmauer, die wie ein strenges aegyptisches Monument wirkt und auch innerlich einige Beziehungen zum Pyramidenbau der Aegypter hat. Diese Riesenanlage, die der Chemnitzer u. Leipziger Industrie Kraft liefert, ist unter der Republik geschaffen worden, so in der Stille, dass wir, die wir doch währenddessen in Dresden lebten, nie davon gehört haben. Welch ein Spektakel hätte das dritte Reich aus solch einem Werk gemacht! Aber die Republik hat nur zerstörend gewirkt – und aller Aufbau war der NSDAP vorbehalten. Wenn
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