Klemperer, Viktor
Trude Öhlmanns Sommerfrische. Der Bock benahm sich auf der Hinfahrt scheusslich und ersann neue Tücke. Kaum waren wir aus dem ganz verstopften Radebeul heraus und auf [d]er freieren Strasse nach Meissen, da begann der Motor zu rasen, ohne dass ich ihn abstoppen konnte, ich musste immerfort bremsen, und das Kühlwasser lief kochend heraus. Wir hielten an einem Steinbruch; drei Arbeiter kamen in ihrer Mittagspause, der eine mit offenem Taschenmesser, heraus und halfen sofort freundlich und sachverständig. (Welch eine auch landschaftlich stimmende herrliche Zeitungsaufnahme: Rote spanische Terroristen halten mit offenem Messer ein Auto an und untersuchen es!) Der Federzug vom Gashebel zum Vergaser war ausgeleiert und verhakt. Erste Hilfe; wir sollten aber die Feder in einer Meissener Werkstatt auswechseln lassen. 50 Pf. und drei Cigarillos und das frohe Gefühl freundliche Leute gefunden zu haben. Dicht vor der Meissener Elbbrücke eine Werkstatt. Grosser Betrieb an der Landstrasse. Ein süddeutscher Monteur, eine Besitzerin. Die [F]eder sei gut, nur nach[ g] gestellt musste sie werden. Wieder eine halbe Stunde Aufenthalt, 1,20 M. Kosten. Jetzt der Genuss des Fahrens. Das wundervolle Bild am Fluss oberhalb Meissens, die prachtvolle Strasse nach Oschatz. Eine Weile grösster Beglücktheit, dann begann das Rasen von neuem, schlimmer als zuvor. Ich fuhr mit einer merkwürdigen Technik, drückte den Hebel herunter, bis der Wagen in Schwung war, hakte dann mit dem Fuss von unten her aus und liess rollen. Das war natürlich halsbrecherisch, ruinierte rasch den Bremsbelag (und die Nerven) und liess sich keineswegs im Ortsverkehr durchführen. In Oschatz dicht bei * Zierold – aber es musste in eine Seitenstrasse zurückgestossen werden, und das in diesem Zustand! – ein Opeldienst. Dort wurde nochmal nachgesehen und eingerenkt, wieder eine halbe Stunde und 50 Pfennige. Von da an hat der Wagen ausgezeichnet gehalten. Aber es war drei Uhr, als wir endlich bei Bucha hielten, und bis zwei wollten * * Ö.s täglich auf uns warten. Ich liess * E. beim Wagen und suchte im langgestrec[k]ten Dorf den Schneidermeister * Hessel .. Es so[l]lte immer ein Eckhaus zur Linken sein, wohl einen Kilometer lang und war es doch nie. Schliesslich fand ich eine Sommerfrischlerin mit einem Kind; sie hatte zufällig Ö.s gerade heut kennen gelernt; der Schneider wohne ganz wo anders, Öh.s seien bestimmt ausgegangen, sie wisse aber wohin. Ich nahm die redselige Frau mit zum Wagen zurück, und wir fuhren auf die Suche. Kreuz und quer; dann stiegen E. und die Frau aus, und nach einer Weile waren Ö.s wahrhaftig gefunden und ihr Schneidermeisterhaus desgleichen. Trude lief üppig und unschön in Seidenhosen und einer anliegenden Bluse herum, aber man vergass das * Rubenssche Quelle[n] über ihrer grossen Herzlichkeit und wirklichen Freude. * Der Junge, gerade 18 Jahre, Praktikant in der deutschen Bücherei, ist bildhübsch, seinem knabenliebenden * Vater bedenklich aus dem Gesicht geschnitten, noch ein halbes Kind, aber ein gutes und eifriges. H.J. natürlich, aber (auch wohl schon natürlich) heftig wider Willen. Auch Ö.s berichteten, was man überall hört, von absoluter Unzufriedenheit in allen Kreisen, auch im Dorf. Interessant war mir und charakteristisch für den Kleinbürger, die Angst vor Russland. Bolschewismus halten sie – vielleicht mit Recht – für das noch grössere Übel. Die Judenhetze durchschauen sie und mögen sie nicht, aber sie nehmen alles in den Kauf aus Angst vor Russland. Wir tranken Kaffee, sehr starken nach unserer Angabe auf dem Spirituskocher gefertigt, im Grasgarten, um uns ziemlich dürftige Gegend aber doch freie Dörflichkeit. Es war furchtbar schwül und gewitterig, ich war längst völlig durchgeschwitzt. Wir gingen dann noch ein paar Schritte durchs Dorf, fuhren * * Ö.s ein paar Kilometer auf schmalen holp[ p ]rigen Feld- und Waldwegen, dann rasch auf breiter Strasse nach Dahlen. Von dort nach Bucha sind es 4 km, nac[h] Dresden etliche 60. Als wir uns verabschiedeten, begann starker Regen und das Verdeck musste hochgeschlagen werden. Schwitzkasten. Die Rückfahrt begann kurz vor 6. Jetzt lief der Wagen wie ein Wiesel, ich fuhr oft mit 70 km. Die Dämmerung begann in Meissen, wo ich noch für Muschelchen Fleisch kaufen konnte. Wieder die herrliche Flusstrecke, diesmal besonders schön flussaufwärts Meissen gegenüber. Gewitterhimmel, Wasserdunst, häufige Blitze, sinkender Abend. Aber dann kam der Kampf mit
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