Klemperer, Viktor
Alexandrinertragoedie 2 wird interessant, oft gerade durch ihre Öde, wenn man sie nicht um ihrer selbst, sondern um der Epoche willen liest. Das ergriff mich heute bei den Vormittagsnotizen zu * Pellegrins Mort d Ulisse . 3 Diese Notizen, nachher das Suchen u. Finden im Katalog der Landesbibliothek, waren die guten Stunden des Tages. Danach die erschlaffende Hitze, die versagenden Augen, das Herz, der Todesgedanke, die Sorgen ... so geht es Tag für Tag: zwei gute Stunden wach, sechs Stunden immer noch gesunden Nachtschlafs (sofort ohne Wachliegen, von 1 bis gegen 7 Uhr – und sechzehn Stunden trüber Rest. Neuerdings ist mein körperlicher Tiefpunkt unmittelbar nach dem späten Frühstück, gegen 12, gelegen. Mir fällt buchstäblich die Feder, das Buch aus der Hand, das Cigarillo aus dem Mund. Ich muß zehn Minuten liegen, schlafe auf dem Sopha ein, wache mit Übelkeit auf – aber dann geht es wieder aufwärts. Ich lese viel vor, auch über Tag, ich trockne nach Tisch Geschirr ab. Mein Spaziergang: zum Reka oder zur Landesbibliothek (dieser weitere Weg selten). * Eva komt nur ganz selten aus dem Haus. In Dölzschen oben höchstens zwei-, dreimal im Monat.
Sonnabend 19. August
Ich las vor: * Hans Grimm Der Ölsucher von Duala 4 ( * Annemarie schenkte ihn zu * E. s Geburtstag). Eigentlich im Ganzen schlecht. Zwei disparate Teile. a) eine fragmentarische Novelle. Abenteuernder u. ernsthafter Hamburger Junge u. reicher Kaufmannssohn stellt sich auf eigene Füße, erst in USA., dann – Vermächtnis eines verkommenden Arbeitscollegen – als Ölsucher in Duala. Gute Kolonialschilderung Anfang 19, fein skizzierte Liebesaffaire – Kriegsausbruch. Und nun ist b) alles eine Dokumentensammlung, 1917 im Auftrag der Regierung unternomen, jetzt zu nachträglicher Hasssaat veröffentlicht, über die Qualen die Kolonialgefangene, 250 etwa, in Dahomey von den Franzosen erfuhren: Arbeit in Tropenhitze u. Negertreibern, Prügel, Daumenschrauben. Dies mit größter Anschaulichkeit in furchtbarer Wiederholung ausgesponnen, mit leidenschaftlichen Anklagen gegen Frankreich u. leidenschaftlicher Verherrlichung des solcher Untaten unfähigen des (immer wieder!) anständigsten Volkes, der Deutschen. – Der Ölsucher stirbt u. sein Tagebuch gelangt in die Heimat. – Das Buch komt peinlich zu spät. Diese französischen Sadismen sind gräßlich – aber was besagt in der allgemeinen Raserei von 1914/15 der Tropenkoller etlicher Leute gegen ein ganzes Volk?
Und wieviele ähnliche Scheußlichkeiten geschahen u. geschehen seit dem 5. März ohne äußeren Krieg inmitten des anständigsten Volkes. Und wenn der Deutsche immer jammert: Schwarze über uns – Sünde am weißen Blut! – und wenn der Franzose erklärt, daß er Unterschiede der Rasse negiere – wo soll ich hin mit meinen Sympathieen? – Geschrieben ist das alles wieder einerse bäurisch-biblisch affektiert, geschildert aber doch auch wieder seelisch wie körperlich gleich eindringlich. Ein * Dichter fraglos, gewiß auch ein Idealist – aber ein enges Gehirn u. stilistisch-artistisch verkrampft.
Dann las ich auf * Evas mehrfachen Wunsch einen Roman von * Paul 1 Lindau vor, den sie zweimal schon, ich – trotz meiner Lindau-Monographie – noch nie gelesen hatte. Der Agent (1899) E. hat recht, es dürfte Lindaus bester Roman sein. Eine ausgezeichnete Kriminalstudie, kaltschnäuzig u. eindringend, sehr viel besser und als manche, keineswegs schlechter als alle modernen Kriminalsachen die ich gelesen habe. Es ergab sich solche Spannung daß ich gestern (heute) da Eva Abends zerschlagen zu Bett ging von 9–10, danach, mit einer Pause von 15 Minuten, von 11 bis nach zwei Uhr das Buch zu Ende vorlas. L. ist hier durchaus in seinem Esse; er braucht keine seelischen u. geistigen Tiefen vorzutäuschen, er gibt Durchschnitt. Am Anfang der 90er Jahre ein reicher gutmütiger leichtfertiger schwerreicher Junge, sein dirnenartiges Verhältnis, nicht ganz dumm, nicht ganz schlecht, ganz schwach u. begehrlich aber, eine wie es eine Million gibt, u. dann der überlegene, aber eigentlich auch nicht ganz diabolische Agent – verkommener, skrupelloser, begabter Mensch, Gelegenheitsmacher, seine Gewalttätigkeit, die ihn ruckartig überfällt zurückdrängend. Er wird allmählich zur Zuhälternatur, heiratet mit Abfindungssumme das Mädel, wird durch Gelegenheit zum Raubmord an dem andern gebracht. Richtet alles so ein, daß Entdeckung fast ausgeschlossen, leidet monatelang unter
Weitere Kostenlose Bücher