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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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ganz offenbar nicht so gut, wie sie sich e[i]nbildet. * * Die Kemmleins, brave Leute, aber doch eben auf Verdienst und Kundschaft angewiesene Fremde, klagten mir ein bisschen ihr Leid, und nach meinen Erfahrungen wahrscheinlich weder mit Unrecht noch mit Übertreibung. Ich sagte, für meine Schwester sei ich noch immer der kleine Bruder und so ohne Einfluss auf sie. Das Herz war mir ziemlich schwer, als wir uns um ½ 11 kurzen Abschied nahmen. – Abspannung oder stärkerer Verkehr: diesmal wurde mir die Berliner Durchfahrt schwerer, und beim Übergang in der Warschauer Strasse kam ich mit einem doppelten Lichtsignal nicht gleich zurecht. Wir verloren Zeit auf der vergeblichen Suche nach einem * Langebruder, von dem eine Motorradbatterie mitzubringen versprochen war. Wir wurden dann an * Langes Warnungen vor der Jüterbogstrasse gemahnt. Diesmal war sie schwer [ mit ] verstopft mit grossen Lastzügen, die auf den Sommerwegen nicht zu überholen waren. Eva hatte noch in Tempelhof an der Dorfstr. zu Mittag gegessen: wir kamen erst sehr spät in das schöne Café Blumberg am Markt in Jüterbog, erst nach vier von dort weg. Jetzt war der Weg freier, und ich fuhr sehr rasch. Wir machten nur einmal kurzen Halt und stiegen in der Gegend bei Elsterwerda auf ein turmartiges Kriegerdenkmal, von dem man weithin aber nur über Jejend (wenigstens für verwöhnte Leute nur Jejend) sah. In Grossenhain erwischte uns die Dunkelheit. Nun kam eine wirklich überaus anstrengende Nachtfahrt. Es wimmelte in der Moritzburger Gegend von blendenden Entgegenkommern und unsichtbaren Radlern. Total erschöpft hatte ich dann noch ein grosses Stück Dresden zu durchfahren. Einen Moment lang war ich wie eingeschlafen, um ein Haar hätte ich eine Radlerin angefahren, obschon ihr karriertes Hinterteil mächtig vor mir leuchtete. Im letzten Augenblick rief mich * Eva an, ich warf den Wagen mit einem Ruck zur Seite. Das gab mir den Rest, am Hauptbahnhof gelang es mir nicht mehr, den Wagen richtig einzureihen, ich musste ihn an einen stilleren Platz (hinter die Karren der Dienstmänner) setzen. Nach dem Essen war ich ein bisschen erholt und brachte uns um neun etwa heil nach Hause. – Diese Abschlussfahrt ergab in zwei Tagen genau 504 km von Haus zu Haus, aber nicht bloss die Kilometer hatten mich derart mitgenommen.
     

 
    Sonntag, 12. Sept. Dölzschen.
    Erschöpfung und Depression dauern natürlich an; der Tagebuchnachtrag ist eben fertig, der zweite Band * Monglond durchgegangen, und jetzt sollen die möglichst knappen Notizen beginnen – aber irgendeine Befreiung von dem allgemeinen taedium und Gefühl der Nutzlosigkeit aller Dinge ist noch nicht vorhanden. Schade, dass mir zum guten Katholiken eine Schraube fehlt oder eine zuviel gegeben ist[.]
    * Eva liegt viel und liest (bei sehr schlechtem und peinlich-herbstlichem Wetter, das unmittelbar nach unserer Fahrt einsetzte; ich bin reichlich beschäftigt mit Wirtschaft, Wirtschaftswegen (zu FUSS! denn ich getraue mich nicht, den Wagen allein aus der Garage zu fahren), mit Tippen, Lesen und Vorlesen ( * Holtei), aber das vielfach genährte taedium will sich nicht geben.
    Evas Zahnaffaire liegt sehr gräulich vor mir: ich mag diese Narkosen gar nicht, ich sehe auch voraus, dass es mit dem Gebiss dieselbe Sache werden wird wie vor Jahren mit der Schuheinlage. – Zu meinem Opus fehlt das Vertrauen, 1. dass es wirklichen Wert hat, 2. dass ihm ein Erfolg beschieden sein kann, 3. dass ich es zuende führen werde. – * Gretes jämmerliche Vernichtungsangst hat sehr ungut auf mich gewirkt, und die ständigen Herzbeschwerden beim Gehen rücken auch mir wieder und wieder das blödsinnige Nichts vor Augen. – Und dann der politische Ekel. Überall unterwegs die Tafel Juden unerwünscht!, und jetzt während des fünften Parteitages die erneute Aufpeitschung des Judenhasses. Die [J]uden morden Spanien, die Juden sind das Volk der Verbrecher, ALLE Verbrechen gehen auf DEN JUDEN zurück (der amtliche Stürmer und der Minister Göbbels * ). Und das Volk ist so dumm, dass es alles glaubt. Gewiss, die * Bäckersfrau Güntzel hält mir in einem Wutanfall eine Semmel unter die Nase: DAS müssen wir backen, diesen Mist!, gewiss jeder schimpft; aber jeder hält still, und die Masse glaubt schliesslich alles. Die ganz brave, aufgeweckte und gar nicht lammfromme * Frau [K]emmlein in Strausberg sagt mir: Lieber hungern als Communismus! Als wir hier bauten, vor dem dritten Reich, rief einer über den Zaun: Ihr baut –

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