Klemperer, Viktor
Sofort mit * * Frankes zu uns zurück und hier Kaffee getrunken. * Walter F., jetzt über die 50, ist ein massiger, sonst seinem * Vater ähnlicher Herr geworden, gutmütig, freundlich, belanglos wie seine * Frau, Correspondent eine[r] St[i]ckstoffgesellschaft mit 450 M. Bruttoeinkommen, bescheiden, zufrieden, unpolitisch, als Halbblut im Amt geblieben, Mitglied der Arbeitsfront und Reichsbürger. Nach dem Kaffee fuhr ich die beiden durch die Stadt bis zum Reiterdenkmal jenseits der Brühlterrasse und zurück. Danach brachten wir beide die beiden wieder nach Obg. und fuhren wieder heim. Dann nach eiligem Abendbrod holte ich * Grete vom Bahnhof. Das alles zusammen ergab ein[e] Tagesstrecke von 230 km. unter erschwerenden Umständen (immer in Gesellschaft!); ich war völlig zerbrochen. Dann noch langes Reden mit Grete; auch * Eva war erledigt.
Es wäre mir das liebste gewesen, hätten wir G. am nächsten Tage gleich weiter befördern können; aber sie ruhte hier aus, und das bedeutete für uns eine weitere ruhelose Ewigkeit und Nervenbelastung. Abends mit ihr ins Kino am Freibergerplatz: recht belangloses und langweiliges Stück: Sieben Ohrfeigen. 1 Auch schauspielerisch mit dem Liebespaar * Harvey– * Fritsch schwach besetzt; gut nur * Abel 2 als Conzernleiter und Sportsman.
Am Mittwoch waren wir eigentlich alle vier angeschlagen, Eva zitterte und fror vor Abspannung, Grete hatte sich längst übernommen, der Bock hatte nur vier Räder, und mir wars gnua. Eva hatte im Wagen wenig Platz neben der dick eingepackten Grete, ich war durch den grossen Koffer neben mir behindert. Trotzalledem verlief ein sehr grosser Teil der Fahrt ganz erfreulich. Passables Wetter, man frischte sich auf. Gegen elf fort, durch die Stadt, über Moritzburg, das sich bildschön (buchstäblich BILDschön) praesentierte, nach Grossenhain, Elsterwerda – hier im gleichen Rautenkranz Mittagsrast wie am 18. August bei der Ausfahrt –, Liebenwerda, dem sehr anmutigen Kurort. Von hier aus die für uns neue Strecke, die übliche Berliner Route, vor der uns * Lange gewarnt hatte, deren Strassen aber sichtlich in letzter Zeit nachgebessert sind. Herzberg, Jüterbog. Landschaftliche Jejend. Bei Herzberg eine grosse Strassenkreuzung, nur die Strecke nach Leipzig führt durch die Stadt, die nach Berlin an ihr seitlich vorbei durch ein Nest Altherzberg. Das erkannten wir erst auf der Heimfahrt anderntags. Am Mittwoch bedeutete das mir eine schmerzliche Kaffeeverzögerung, die aber zum Heile ausschlug. Denn so wurde Jüterbog eine Köstlichkeit. Erstens als Stadt: Wunderhübsche alte Türme und Tore, ein bedeutendes Rathaus, alles roter Ziegelbau im Ordensstil, und an einer Ecke des Rathauses ein bronzener Ritter mit höchst realistischem feixenden Max- und Moritzgesicht. Und zweitens neben dem Rathaus ein grosses elegantes * Caféhaus mit dem allerschönsten Mokka (vivifiant! – von jetzt ab wird nach Berlin über Jüterbog gefahren) Die gute Stimmung hielt allseits lange an, ich glaube über Luckenwalde hinaus. Dann aber liessen * Gretes Kräfte nach. Bei einem notwendigen Weg in den Wald glitt sie aus und hatte einen kleinen Herzanfall. Auch kam ein schwerer Gewitterwind auf mit Regenschauern; wir mussten ein paarmal halten, das Verdeck schliessen, wieder öffnen, wieder schliessen. Zeitverlust. Noch bei Tageslicht Durchfahrt durch Berlin. Die imposante breite gute Straße durch Tempelhof (dreigeteilt), die Bellealliancestr., das Hallesche [T]or, an der Hochbahn zur Skalitzer[-] und Warschauerstr. (schöner Osthafen!) die Frankfurter Allee. Mir hatte die glückliche Durchfahrt wirklichen Hochgenuss bereitet, Grete aber hatte sie sehr ermüdet, und nun war noch das lange Stück (etliche 30 km.) nach Strausberg in die Dunkelheit hinein und z. T. als Lampenfahrt zu bewältigen. Um ½ 8 in St. Grete stieg aus, noch ehe wir den Wagen gewendet, liess sich gleich nach dem Essen zu Bett bringen und blieb[ b ] am nächsten Morgen liegen; im Lauf des Tages sollte ihr Arzt kommen, sie war offenbar in grosser Furcht. Wir selber gingen noch ein paar Schritte die Landstrasse entlang und legten uns zeitig und zerschlagen hin.
Der nächste Morgen (Do. 9. 9.) nicht sehr erbaulich. * Eva recht mitgenommen. Von Eva * Grete wusste ich nicht und weiss ich [ ich ] nicht, wie weit sie malade imaginaire, wieweit wirklich krank ist. Aber bestimmt ist sie alt, hilflos, weltfremd auf fremde Leute angewiesen und dabei tyrannisch[ s ], tyrannischer als sie ahnt. Auch zahlt sie
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