Klemperer, Viktor
essen. Beim Kaffee trat düsterer Friede ein, später fuhren wir zu * Wolf, das Rad hinbringen und durch den Poisengrund zurück, und dann assen wir zusammen in der Diele unser Abendbrod. Aber ich hatte genug, genug, genug, und die injeladene Reise schien mir überreichlich bezahlt.
17.) Endlich am Freitag, 3. Sept. brachte ich Grete zum Vormittagsschnellzug[,] liess sie im Gepäckaufzug zum Bahnsteig befördern[,] setzte sie in das Abteil und überzeugte mich, dass sie 10 Uhr 41 gen Brünn zu ihrem Vetter und Jugendfreund Gustl * Bunzl (ASSEKURANZ- Bunzl[], Wien) entschwand. Etwa in sechs Tagen wird sie wieder auftauchen, um dann im Wagen nach Strausberg zurückbefördert zu werden.
Dies ist also die Geschichte der grossen Reise und Unterbrechung unseres Alltags, woran ich bis heute, Sonntag, 5. Sept. getippt habe.
Dresden, 5. 9. 37. Sonntag Vorm.
Vom Bahnhof zurück, holte ich am Freitag * Eva und fuhr mit ihr zum * Zahnarzt. Die Consultation hatte das vorausgeahnte unerquickliche Ergebnis; Herausnehmen wackelnder Zähne und künstlicher Ersatz sind nötig, lange Quälerei, Kosten, Stottern, Unsicherheit des Enderfolges. Immerhin: es gibt bösere Erkrankungen, und diese Affaire zählt eher zu den Peinlichkeite[n] als zu den Unglücksfällen.
Wir suchten wieder zu uns zu kommen, Eva im Garten, ich an der Maschine. Abends las ich ein bisschen aus dem ganz entzückenden * Ho[l]tei 2 vor (Die Vagabunden). Für gestern, Sonnabend, waren wir zum Abendbrod zu B * Annemarie eingeladen, die seit Monaten nichts von sich hatte hören lassen. Die Hinfahrt bei ungemein vielen Entgegenkommern (ein ganzer Fackelzug radelnder Arbeitet der grässlich stinkenden * Kunstseidefabrik Küttner in Pirna, u. a a ., u.a.!) und auf der engen vielgewundenen Strasse nach Pirna recht schwierig und langsam. Nachher die [R]ückfahrt in stillerer Nacht besser. Die Klinik und Privatwohnung nun eingerichtet und elegant. Wir mussten alles bewundern, insbesondere die imposante Röntgenanlage. Seltsam, wie * Dressel ganz und gar dominiert, Annemarie ist nur praktische Ärztin, Assistentin, Hilfskraft – Geldgeberin. Ein Dutzend Jahre lang war die Chirurgie ihr Ein und Alles, und nun ist sie mit der messerlosen zweiten Rolle durchaus glücklich. Genau so, wie * Scherner nicht mehr an Philosophie und Grossstadt denkt und in seiner Kleinstadtapotheke zufrieden ist. Opa überblickt nun schon recht weitgestreckte Schicksale. Wo denn zuletzt der Himmel gnädig (GNÄDIG!) den Wunsch mitsamt der Pein 3 kassiert.
Bei mir ist es bisher noch nicht der Fall, und ich werde mich nun nach der langen Pause mit besonderer Energie auf mein Dix-huitieme stürzen. Zuerst freilich wird es noch Unterbrechungen geben, aber für diese Übergangszeit ist die Rest- und Notizarbeit am * Monglond, danach der Maschinentext des im Ms. fertigen * Prevost sehr geeignet. – Bei * Annemarie ein ganzes Souper mit vielem Alkohol, Wein, Sekt, Liqueur. Ich wurde bedenklich müde, aber ein starker Kaffee frischte mich auf und ich brachte den Wagen gut nach Hause. Um zwei im Bett. – Erfreulich bei unserer wieder sehr gespannten Finanzlage, daß Annemarie die drei ihr überlassenen Schränke mit 100 M. zahlte. Ich bin im Geldpunkt sehr fatalistisch u. dickfellig und ganz unbürgerlich geworden. –
11. Sept. 37 Dölzschen.
ABSCHLUSS DER UNRUH- UND REISETAGE.
* Grete sollte am Mittwoch aus Brünn zurückkommen; sie sagte sich schon Montag früh (6. 9.) telegraphisch für den gleichen Abend an. An diesem Vormittag zu * Wolf nach Freithal: der geflickte Reifen hatte nicht gehalten. Mit Wolf auf den Autofriedhof (den ersten, den ich betrat, interessant genug!) in die Schandauerstr. Weder ein alter noch ein neuer Reifen zu haben, ein neuer – durch Zufall für nächste Woche versprochen, üblicherweise warte man jetzt sechs Wochen darauf – signum temporis. Von dort in ein Spezialgeschäft am Freibergerplatz, wo wenigstens ein Schlauch aufzutreiben; von dort wieder nach Freital, wo * [W]olf den Schlauch unter den defekten Reifen setzte. Dieser völlig unzulängliche Zustand des Reserverades hatte wenigstens das eine Gute, einen triftigen Absagegrund * Marta und * Sussmann gegenüber abzugeben: wir waren beide allzumüde, noch einen Verwandtenbesuch durchzuhalten und sehnten uns nach Ruhe, weniger vom Fahren an sich als von der Verwandtschaftsmisere. Diese Jagd nach dem fünften Rade kostete am Montag die ersten 40 km. Dann nach Tisch nach Oberbärenburg.
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