Klemperer, Viktor
wir an beiden Abenden sahen: das Fliegerheer mit zugehörigen Truppen. Ausgezeichnet gemacht.
29./4. Freitag
Aber der technische Vorfilm gestern: Telegraphie etc. bei der Post imponierte mir noch mehr. Immer bewegt mich dies: so viel ingenium humani generis und soviel absolut gleichbleibende Dummheit. Etwas für das Notizbuch pro Deo. 8 – Der gestrige Tag noch Halbferien und so eben Abends im Kino: Der nackte Spatz[] 9 : Törichtes Volksstück, kleine Leute in kleiner Stadt. Aber * Rotraut Richter als Mädel von 12, 13 Jahren mit ihrem Köter Luxi, an der Spitze einer Jungens-Indianerbande, als Reiterin im Cirkus usw. Ganz nett, nicht wesentlich.
3. Mai, Dienstag.
* Hitler ist gestern mit Grossem Gefolge nach Italien gefahren. In den Pressebetrachtungen zum erstenmal: Das HEILIGE GERMANISCHE REICH DEUTSCHER NATION. Bei einer Romfahrt gebraucht ist das Wort Heilig von der groteskesten Bedeutung. Gleichzeitig wird von der grossen AUFMACHUNG des italienischen Empfanges berichtet. Immer wieder, immer gesteigert die Componenten Amerikanismus, Technizismus, Automatismus und Deifizierung. 1 Übrigens treffen sich die beiden Männer, die das neue Europa geschaffen haben. (Poveretto d'un re d'Italia! 2 )
Gestern haben wir 74 M. Reingewinn in der ersten Klasse der Lotterie gewonnen. Gleich wurden Pläne des Verjubelns in Alkohol und Benzin gewälzt.
* Delille heute ganz in der Maschine. Momentan wieder Stockung und Depression.
Neulich fiel mir ein: Auch das beste Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist niemals ein ganz ehrliches. Fremdheit blei[b]t immer. Der Junge ist liebevoll nachsichtig gegen das rückständige Alter, der Alte liebevoll nachsichtig gegen die unfertige Jugend – im letzten betrügt man sich, verheimlicht sich das Entscheidende. Wirklich verstehen kann ich meinen Vater erst jetzt, wo ich selber alt bin und ihn historisch aus seiner Zeit heraus beurteile. Die eben nicht die meine war. Denn DIE Zeit eines Menschen ist seine Entwicklungszeit. Ich verstehe natürlich auch nicht die jungen Menschen von heute.
10. Mai 38, Dienstag.
Gestern haben wir noch geheizt, heute ist es wärmer, aber noch immer kühl genug.
Auf den grossen Lotteriegewinn von 74 M. hin ein etwas üppigeres Leben. Leichtfertig? SO sparen, dass wir die Lebensversicherung aufrechthalten, die Hypothek decken können, vermögen wir doch nicht. Wir lassen seit langem die Dinge fatalistisch kommen und gewinnen dem Tag ab, was sich herausholen lässt. (nur in meiner Arbeit bin ich zäh auf die Zukunft gerichtet. Abschnitt Didaxis 3 eben ganz druckfertig, zur Tragoedie [L]ektüre begonnen.)
Vorgestern Nachmittag bei hundekaltem sonst hübschem Wetter auf den Schwartenberg (Frauenstein, Richtung Sayda, Bienenmühle, Neuhausen – etwa 75 km. schwierigste Bergfahrt). Landschaftlich doch wohl das Allerschönste und reichhaltigste, ja Bedeutendste, was man an einem Nachmittag von Dresden aus unternehmen kann. Herrliche Waldstrecken, Kammstrasse mit weitem Blick, das gemäldeartige Frauenstein, das alte Vorwerk bei, das mittelalterliche Schloss in Neuhausen, der mächtige Rundblick von der Kuppe des Schw.bergs. Wir waren schon voriges Jahr einmal oben und fanden es diesmal noch grandioser. (Dazu der Gedanke: drüben die Tschechei, das Ausland, vielleicht das Schicksal! – Die Hetze gegen sie geht unablässig weiter.) Aber wir zitterten buchstäblich zähneklappernd vor Kälte, es war auch 6 Uhr geworden, und ausserdem drängten sich SA-Leute und Fahnen, und gerade wurden die Preise eines stattgehabten Segel- oder Modellsegelfluges verkündet – man sah einige Modelle und viele Autos. Also nach wenigen Minuten zurück und im Vorwerk einen Bittersüssen zur Aufwärmung genommen. Wir waren anderntags zerschlagener als nach der Berlinfahrt, der Kälte und des schwierigen Weges halber. – Den 16. wollen wir ganz gross feiern 4 : zweitägige Schlesienfahrt mit Übernachten in oder bei Breslau.
Am Sonnabend hatten wir vergeblich versucht einen Platz im Kino zu bekommen, alles ausverkauft, es geht dem deutschen Volk entsetzlich gut! Gestern am Montag im Capitol: Broadway-Melodie 1938. 5 Ebenso entzückend wie die erste Broadwaymelodie: die Leute tanzen so herrlich negroid, singen so herrlich negerhaft, haben einen so kindlichen Humor, eine so kindliche Sentimentalität. Wir waren vom ersten bis zum letzten Bild und Ton entzückt. Diesmal eine Mischung aus Revue, Artistenleben und Pferderennen. Und
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