Klemperer, Viktor
Conférencier, * Reissmann (er hatte sich vorgestellt) ständig das Verdeck zu = u. aufzukurbeln. Man fuhr wahrhaftig zickzack ins Blaue unter großem Raten. Erst die Kipsdorfer Straße bis Possendorf, dann westlich durch das Poisenthal, Waldgehügel, dann zurück in den Industrieort Freithal, Freithal-Deuben – Potschappel, dann westl. Wilsdruffer Straße nach Oberhermsdorf, dann südl. nach Tharandt u. Edle Krone – östlich: Borlas, Lübau, dann wie zurück u. abwärts, dann wieder aufwärts und südlich in die Rabenauer Gegend. Haltepunkt, noch nie, in dreizehn Dresdener Jahren nie gehört: Lübau . Ein großes Etablissement an ein altes Bauernhaus gebaut. Garten, Kurgäste. Eigentlich nur Gegend – aber Dresdener Gegend. Hochplateau, man sieht in Waldgehügel. Und die ganze Fahrt immer dies: Hochebene, eingeschnittene Thäler, Waldhügel, überall Ortschaften, sehr, sehr viele Blumengärtchen, Felder mit Getreidehaufen, einmal eine Dreschmaschine in Gang, einmal Ährenleserinnen – Hochsommer. Die Leute, sehr vergnügt, winkten, grüßten, erwiderten jeden Gruß der draußen Winkenden. Einmal schrie von außen her eine Kinderstimme: Heil Hitler. Niemand im Wagen rührte sich. – Beim Kaffee am Tisch zweier alter Damen, besseren Standes, gehobene Klatschbasen, ganz arisch. Brocken ihres Gespräches: Entrüstung, daß man irgend einen jüdischen Arzt – so feiner Mensch, so gute Familie – um sein Brod gebracht habe. – nach dem Kaffee im großen Saal Kabarett. Die drei Manager trugen allerhand vor. Nur das erste Poem mit Pathos: Michel, sei deutsch! gegen die Ausländerei. Aber kein Atom Politik, kein Antisemitismus – die harmlosesten Fliegende Blättersachen; 1 Tierstimmen, Dialekte usw. – Bei der Ausfahrt aus der Stadt wagte Reismann einmal (das ist wahrhaftig schon ein Wagnis): Jetzt sind wir []gleichgeschaltet['] mit dem Busen der Natur. (Verspottung eines heiligen Wortes, eines Symbols – 6 Monate Gefängnis). Die Zackelfahrt – einmal schlief ich auf ein paar Minuten ein, wurde dann wieder frisch dauerte wohl 2½–3 Stunden. Nach dem beschriebenen Rest um 6 einen direkten Weg über Hainsberg zurück. So direct, daß es mit den schweren u. riesigen Wagen mehrfach über schmale Wege, ja über Feldacker ging, sehr langsam, stockend, mit verschiedenen Ansätzen eine Ecke zu nehmen, an einem Erntewagen vorüberzukommen usw. Wir waren erst gegen 8 Uhr zurück u. aßen auf dem Hauptbahnhof. Sehr befriedigt, aber auch sehr ermüdet von dem ungewohnten Reisen. Wir waren vor 11 Uhr im Bett u. noch am nächsten Tag ermüdet.
Ich will mir jetzt immer kurz notieren was mir zu meiner Vita einfällt. Habe ich schon meine erste selbständige politische Regung? Ich war 1899 für die Engländer, als alles, das ganze jüdische Haus Loewenstein & Hecht, 1 für die Buren schwärmte. Mein erster Eindruck amerikanischer Musik: die Kapelle * Sousa 2 1903 in Paris. Wie einer nach dem andern hereinkam u. zu spielen begann. Wie sie die Wahsti Washingtonpost spielten. Mein erstes Gefühl eines großen Krieges: Ich ging mit * Eva über die Kantstr. u. man brüllte die Extrablätter vom japanischen Torpedoangriff bei Port Arthur. 3
Ich kann u. kann nicht glauben, daß die Stimmung der Massen wirklich noch * Hitler stützt. Zu viele Anzeichen dagegen. Aber alles, buchstäblich alles erstirbt in Angst. Kein Brief mehr kein Telephongespräch, kein Wort auf der Straße ist sicher. Jeder fürchtet im andern Verräter u. Spitzel. * Frau Krappmann warnt uns vor der allzu nationalsoz. * Frau Lehmann – u. Frau Lehmann erzählt uns mit größter Bitterkeit, ihr Bruder sei zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, weil er einem echten Communisten ein Exemplar der roten Fahne geliehen habe, der echte aber ein Spitzel gewesen sei.
18. Jh., erste Hälfte, kreuz u. quer, immer volles Interesse u. immer mit dem Gefühl der ozeanischen Unausschöpfbarkeit. Reiseberichte in der Landesbibl. (Quartbände) u. zu Hause (Oktav), * Lafosse, 4 * La Motte, * Piron. 5 Über: * Petermann 6 Vers u Prosastreit, * Mornet Pensée française. 7 Das Schwierigste wird einmal die Disposition sein. Gestalten im Ganzen? Disjecta membra? 8 Strömungen? Gattungen? Aber ich glaube oft, sogar meist, es komt nicht mehr zu diesem einmal. Ich habe den frechen, oberflächlichen u. doch begabten Zugriff meiner früheren Jahre eingebüßt. Nachzuschreiben u. bloß mit eigener Form zusamenzustellen, lockt mich nicht mehr.
Dienstag gegen Abend 22/8
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