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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Scene, als Herr K. erklärte, sich zum Ja beim Plebiscit entschlossen zu haben, die gleiche Anweisung habe schweren Herzens auch der Centralverband deutscher Juden ausgegeben. Ich verlor alle Contenance, hämmerte mit der Faust auf den Tisch u. brüllte K. wiederholt die Frage zu, ob er diese Regier ung enden, deren Politik er bejahe für Verbrecher halte oder nicht. Er verweigerte mit schöner Nathansweisheit die Antwort; ich hätte kein Recht, diese Frage zu stellen[]. Er fragte mich seinerseits höhnisch, weßhalb ich im Amt bliebe. Ich erwiderte, daß ich nicht von dieser Regierung berufen sei u. nicht ihr diente, u. daß ich mit bestem Gewissen Deutschlands Sache verträte, daß ich Deutscher sei u. gerade ich
     

 
    11. November .
    B Die maaßlose Propaganda für das Ja. Auf jedem Geschäftswagen, Postwagen, Fahrrad der Postboten, an jedem Haus u. Schaufenster, auf breiten Spruchbändern, die über die Straße gespannt sind – überall Sprüche von Hitler, und immer Ja für den Frieden! Es ist die ungeheuerlichste aller Heucheleien. Wir wollen mehr Soldaten, um dann das Heer zur Miliz zu machen u. mit der Million SA. zu verschmelzen. Umzüge u. Chorrufe bis in die Nacht, Lautsprecher auf den Straßen, Musikwagen (mit aufmontiertem Funkapparat 1 ), Autos wie Straßenbahnwagen.
    Gestern von 13–14 Uhr die Feierstunde. In der dreizehnten Stunde komt * Adolf Hitler zu den Arbeitern. Vollkomen die Spra Sprache des Evangeliums. Der Erlöser kommt zu den Armen. Und dazu die Amerika-Aufmachung. Das Sirenengeheul, die Minute des Stillstehens .. Ich war oben bei * * Dembers – * Eva brachte es nicht über sich mitzukomen. In dem kleinen Zimmer saßen handarbeitend Frau Dember, * Emita, das wendische Mädchen, eine alte Kinder = und Aushilfsfrau, * Frau Mark 2 und ich. Aus Siemensstadt, Maschinenhalle. Man hörte Minutenlang das Pfeifen, Knirschen, Hämmern, dann die Sirene u. das Singen der abgestoppten Räder. Ein höchst geschickter ruhig gesprochener Stimmungsbericht * Goebbels, dann über 40 Minuten Hitler. Eine meist heisere, überschrieene, erregte Stimme, weite Passagen im weinerlichen Ton des predigenden Sektierers. Inhalt: Ich kenne keine Intellektuellen, Bürger, Proletarier – nur das Volk. Warum sind Millionen meiner Gegner im Lande geblieben? Die Emigranten sind Spitzbuben wie die * * Brüder Rasser. 3 Und ein paar Hunderttausend wurzellos Internationaler – Zwischenruf Juden! – wollen Millionenvölker gegeneinanderhetzen. Ich will nur den Frieden, ich bin aus dem niedrigen Volk hochgestiegen, ich will nichts für mich, ich habe noch 3 ½ Jahre Vollmacht u. brauche keine Titel, Ihr sollt um Euretwillen Ja sagen. Usw, ordnungslos, leidenschaftlich, jeder Satz verlogen, aber ich glaube beinahe: unbewußt verlogen. Der Mann ist ein enger Schwärmer. Und er hat nichts gelernt.
     

 
    14 Nov.
    Am Sonntag gab stimmte ich beim Plebiscit mit Nein, u. über den Wahlzettel zum Reichstag schrieb ich auch Nein. * Eva gab beide Zettel leer ab. Das war beinahe eine tapfere Tat, denn alle Welt rechnete mit dem Bruch des Wahlgeheimnisses. Es hat sich mancher, um entweder der Wahl überhaupt oder der Wahlcontrolle zu entgehen einen Stimmschein geben lassen, um außerhalb zu wählen. Ich glaube nicht daß man wirklich das Geheimnis verletzt hat. Es war ja aus doppeltem Grund unnötig: 1) genügt es, daß jedermann an den Bruch des Geheimnisses glaubte u. also Angst hatte; 2) war garantiert für die Richtigkeit des gemeldeten Ergebnisses, da die Partei ohne Gegencontrolle alles beherrscht. Ich will auch noch anerkennen, daß durch die wochenlange maßlose u. maßlos verlogene Friedenspropaganda, der kein gedrucktes oder gescpr gesprochenes Wort gegenüberstand, Millionen besoffen gemacht wurden. – Trotz alledem: als nun gestern der Triumph veröffentlicht wurde: 93 % stimmen für Hitler! 40 ½ Millionen Ja, zwei Millionen Nein – 39 ½ Mill. für den Reichstag, 3 1 / 3 Mill. ungültig – da war ich niedergeschlagen, da glaubte ich das beinahe auch u. hielt es für Wahrheit. Und seitdem heißt es in allen Tonarten: das Ausland erkennt diese Wahl an, es sieht ganz Deutschland hinter * Hitler, es rechnet mit Deutschlands Einigkeit, bewundert sie, wird ihr entgegenkommen etc. etc. – Das alles macht mich nun auch besoffen, ich fange auch [an,] an die Macht u. die Dauer Hitlers zu glauben. Es ist gräßlich. – Dabei heißt es aus London: man bewundere besonders daß selbst in den Conzentrationslagern mit zumeist

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