Klemperer, Viktor
– Heute in einem interessanten Emigrantenbrief aus Paris schreibt mir Dr * Elsbeth Günzburger es habe sich in Amsterdam ein deutscher Verlag 2 für uns aufgetan. Aber wie soll ich mich an diesen Verlag wenden? Das könnte mich ja mein en Post Amt kosten. Vorderhand abwarten.
Ich höre jetzt manchmal – die Stimmungen wechseln! – es könne nicht mehr lange dauern, in 8, 9 Monaten müsse das Geld zu Ende sein, die Industrie ausgepreßt versagen. So * Blumenfeld, der früher ganz pessimistische, so * Annemarie Köhler, so * Gusti Wieghardt nach Meinung ihrer kommunistischen In = u. Auslandfreunde.
Im Augenblick dominiert die Wahl = Propaganda für den 12. Nov., für das Plebiscit u. die Einheitsliste des Reich[s]tags. Die Leute laufen mit Wahlplaketten (Ja) am Rockaufschlag herum
Donnerstag 2 November .
Besonders deprimierender Tag. Vormittag auf unserm Terrain, Nachmittags beim * Rechtsanwalt. Ich nehme von der Iduna neues Geld auf, um einen Keller zu bauen. Immerfort erhöhte Kosten u. keine Aussicht, den Bau wirklich durchzuführen. Aber * Eva hängt mit Verzweiflung an der Sache, u. ihre Verzweiflung drängt mich Schritt um Schritt vorwärts .. Große Kosten der Pflanzung. Nachtragskosten der Leitungsanlage. – Der * Hueberprozeß steht außerordentlich schlecht für mich. – –
Die Familien * * Gerstle- * Schaps- * * * Salzburg leben im Hôtel in Teplitz. Ein nationalsocialistischer Rechtsanwalt komt zu ihnen herüber. So wird in Sicherheit mit der Regierung verhandelt, u. man hat auch keine möglichen Geiseln hier gelassen.
Ich traf auf der Bank * Janentzki; 3 er erzählte mir, daß * Holldack vom Protestantismus zum Katholizismus übergetreten ist; er wolle nicht zweitklassiger Christ sein, weil seine * Mutter Jüdin war. –
* Walther Jelski ist nach Palaestina gegangen. Möglich, daß dort sein Weizen blüht. Das ist schließlich eine romaneske Angelegenheit.
Ich kann mir nicht helfen, ich sympathisiere mit den aufständischen Arabern dort, denen das Land abgekauft wird. Indianerschicksal, sagt * Eva. – In den letzten Tagen einmal bei * * Blumenfelds, einmal bei * Gusti Wieghardt zu Besuch. In Erinnerung an den Fall * Gerstle schimpfte Gusti auf die Saujuden in Palaestina, die kapitalistisch über die Araber herfallen. Erziehung zum Antisemitismus durch Nationalsocialisten!
Was tun wir am 12 November? An die Bewahrung des Wahlgeheimnisses glaubt niemand, an das richtige Stimmenzählen eben glaubt auch niemand; wozu also Märtyrer sein? Andrerseits: dieser Regierung Ja sagen? Es ist unausdenkbar ekelhaft.
9 November Donnerstag
Montag im ersten Kolleg, frz. Renaissance, 5 Leute, in der Übung, Renaissancelyrik, 4, heute in * Corneille zwei. Diese 2: * Lore Isakowicz, gelbe Judenkarte – eigentlich möchte sie Dolmetscherin werden, ich berate sie schon seit langem, u. Stud. * Hirschowicz, staatenlos, Nichtarier, * Vater ursprünglich Türke, blaue Karte, die deutschen Studenten haben braune Karte. Die Masse der Studenten ist ununterbrochen durch die Wahlpropaganda in Anspruch genomen; sie müssen Umzüge ver[an]stalten, auf jede Art werben – härtester Zwang, * Karl Wieghardt klagte mir bitterlich darüber; auch ein ganz unbelasteter P. I = Student 1 sagte mir, es stünde vielen bis zum Hals. Möglich also, daß nach dem 12. noch ein paar Studierende zu mir komen. Immerhin muß ich jetzt sehr, sehr ernstlich mit der Einziehung meines Katheders rechnen. In Hamburg mußte * Küchler 2 gehen, offenbar als Pacifist, doch scheint der Paragraph des Überflüssigwerdens benutzt worden zu sein. Man baut die überflüssigen romanistischen Katheder ab, reduciert Hamburg auf das ursprüngliche eine Katheder – weßhalb soll man das Dresdener Ordinariat halten? Und was soll ich anfangen, wenn man mich hier entläßt? Ich kann nichts Praktisches, nicht einmal französisch sprechen u. schreiben . Ich kann nur Literaturgeschichte machen. Ich könnte auch ein guter Journalist sein. Für beides ist nirgends Nachfrage. – Und dabei stecken wir alle Geldreserven u. darüber hinaus in die Dölzschener Sache. Jetzt haben wir bei der Iduna erneut 900 M. aufgenomen, um einen Keller oder Unterstand zu bauen. * Eva ist viel oben u. gärtnert u. macht Erdbewegung, u. ständig wird eben dazu ein Arbeiter in in Anspruch genommen.
Ich lasse alles mit einer gewissen Stumpfheit laufen.
Letzten Sonntag Nachm. waren * * Kaufmanns u. * Frau Rosenberg zum Kaffee bei uns. Es gab eine furchtbare erregte
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