Klingsors letzter Sommer
Garten hereingekommen, nah
bei der Musik, mitten im Lärm. Klingsor
sah Töne, hörte Farben. Der Magier nahm
Flaschen vom Kamin, öffnete, schenkte
ein. Hell stand sein Lächeln auf dem brau-
nen klugen Gesicht. Furchtbar donnerte
die Musik im niederen Saal. In die Reihe
der alten Flaschen überm Kamin brach der
Armenier langsam eine Bresche, wie ein
Tempelräuber Kelch um Kelch die Geräte
eines Altars wegnimmt.
»Du bist ein großer Künstler«, flüsterte der
Sterndeuter Klingsor zu, indem er seine
Tasse füllte. »Du bist einer der größten
Künstler dieser Zeit. Du hast das Recht,
dich Li Tai Pe zu nennen. Aber du bist, Li
Tai, du bist ein gehetzter, armer, ein gepei-
9
nigter und angstvoller Mensch. Du hast die
Musik des Untergangs angestimmt, du sit-
zest singend in deinem brennenden Haus,
das du selber angezündet hast, und es ist dir
nicht wohl dabei, Li Tai Pe, auch wenn du
jeden Tag dreihundert Becher leerst und
mit dem Monde anstößt. Es ist dir nicht
wohl dabei, es ist dir sehr weh dabei, Sän-
ger des Untergangs, willst du nicht inne-
halten? Willst du nicht leben? Willst du
nicht fortdauern?«
Klingsor trank und flüsterte mit seiner et-
was heisern Stimme zurück: »Kann man
denn Schicksal wenden? Gibt es denn Frei-
heit des Wollens? Kannst denn du, Stern-
deuter, meine Sterne anders lenken?«
»Nicht lenken, nur deuten kann ich sie.
Lenken kannst nur du dich selbst. Es gibt
Freiheit des Wollens. Sie heißt Magie.«
»Warum soll ich Magie treiben, wenn ich
Kunst treiben kann? Ist Kunst nicht ebenso
gut?«
»Alles ist gut. Nichts ist gut. Magie hebt
Täuschungen auf. Magie hebt jene
schlimmste Täuschung auf, die wir ›Zeit‹
heißen.«
»Tut das Kunst nicht auch?«
92
»Sie versucht es. Ist dein gemalter Juli, den
du in deinen Mappen hast, dir genug? Hast
du Zeit aufgehoben? Bist du ohne Angst
vor dem Herbst, vor dem Winter?«
Klingsor seufzte und schwieg, schweigend
trank er, schweigend füllte der Magier
seine Tasse. Irrsinnig tobte die entfesselte
Klaviermaschine, zwischen den Tanzen-
den schwebte engelhaft Thu Fus Gesicht.
Der Juli war zu Ende.
Klingsor spielte mit den leeren Flaschen
auf dem Tische, ordnete sie im Kreise.
»Dies sind unsre Kanonen«, rief er, »mit
diesen Kanonen schießen wir die Zeit ka-
putt, den Tod kaputt, das Elend kaputt.
Auch mit Farben habe ich auf den Tod
geschossen, mit dem feurigen Grün, mit
dem knallenden Zinnober, mit dem süßen
Geraniumlack. Oft habe ich ihn auf den
Schädel getroffen, Weiß und Blau habe ich
ihm ins Auge gejagt. Oft habe ich ihn in die
Flucht geschlagen. Noch oft werde ich ihn
treffen, ihn besiegen, ihn überlisten. Seht
den Armenier, wieder öffnet er eine alte
Flasche, und die eingeschlossene Sonne
vergangener Sommer schießt uns ins Blut.
Auch der Armenier hilft uns, auf den Tod
93
zu schießen, auch der Armenier weiß keine
andere Waffe gegen den Tod.«
Der Magier brach Brot und aß.
»Gegen den Tod brauche ich keine Waffe,
weil es keinen Tod gibt. Es gibt aber eines:
Angst vor dem Tode. Die kann man heilen,
gegen die gibt es eine Waffe. Es ist die
Sache einer Stunde, die Angst zu überwin-
den. Aber Li Tai Pe will nicht. Li liebt ja
den Tod, er liebt ja seine Angst vor dem
Tode, seine Schwermut, sein Elend, nur
die Angst hat ihn ja all das gelehrt, was er
kann und wofür wir ihn lieben.«
Spöttisch stieß er an, seine Zähne blitzten,
immer heiterer ward sein Gesicht, Leid
schien ihm fremd. Niemand gab Antwort.
Klingsor schoß mit der Weinkanone gegen
den Tod. Groß stand der Tod vor den
offenen Türen des Saales, der von Men-
schen, Wein und Tanzmusik geschwollen
war. Groß stand der Tod vor den Türen,
leise rüttelte er am schwarzen Akazien-
baum, finster stand er im Garten auf der
Lauer. Alles war draußen voll Tod, voll
von Tod, nur hier im engen schallenden
Saal ward noch gekämpft, ward noch herr-
lich und tapfer gekämpft gegen den
94
schwarzen Belagerer, der nah durch die
Fenster greinte.
Spöttisch blickte der Magier über den
Tisch, spöttisch schenkte er die Schalen
voll. Viele Schalen schon hatte Klingsor
zerbrochen, neue hatte er ihm ge-
geben. Viel hatte auch der Armenier
getrunken, aber aufrecht saß er wie Kling-
sor.
»Laß uns trinken, Li«, höhnte er leise. »Du
liebst ja den Tod, gerne willst du ja unter-
gehen, gerne den Tod sterben. Sagtest du
nicht so, oder habe ich mich getäuscht –
oder
Weitere Kostenlose Bücher