Klingsors letzter Sommer
Freunde, so ist es
uns bestimmt, die Tonart Tsing Tse ist
angestimmt.«
Der Armenier schenkte Wein ein.
»Wie Sie wollen«, sagte er. »Man kann ja
sagen, und man kann nein sagen, das ist nur
Kinderspiel. Untergang ist etwas, das nicht
existiert. Damit Untergang oder Aufgang
wäre, müßte es unten und oben geben.
Unten und oben aber gibt es nicht, das lebt
nur im Gehirn des Menschen, in der Hei-
mat der Täuschungen. Alle Gegensätze
sind Täuschungen: weiß und schwarz ist
Täuschung, Tod und Leben ist Täu-
schung, gut und böse ist Täuschung. Es ist
das Werk einer Stunde, einer glühenden
Stunde mit zusammengebissenen Zähnen,
dann hat man das Reich der Täuschungen
überwunden.«
Klingsor hörte seiner guten Stimme zu.
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»Ich spreche von uns«, gab er Antwort,
»ich spreche von Europa, von unsrem alten
Europa, das zweitausend Jahre lang das
Gehirn der Welt zu sein glaubte. Dies geht
unter. Meinst du, Magier, ich kenne dich
nicht? Du bist ein Bote aus dem Osten, ein
Bote auch an mich, vielleicht ein Spion,
vielleicht ein verkleideter Feldherr. Du bist
hier, weil hier das Ende beginnt, weil du
hier Untergang witterst. Aber wir gehen
gerne unter, du, wir sterben gerne, wir
wehren uns nicht.«
»Du kannst auch sagen: gerne werden wir
geboren«, lachte der Asiate. »Dir scheint es
Untergang, mir scheint es vielleicht Ge-
burt. Beides ist Täuschung. Der Mensch,
der an die Erde glaubt als an die festste-
hende Scheibe unterm Himmel, der sieht
und glaubt Aufgang und Untergang – und
alle, fast alle Menschen glauben an die feste
Scheibe! Die Sterne selbst wissen kein Auf
und Unter.«
»Sind nicht Sterne untergegangen?« rief
Thu Fu.
»Für uns, für unsre Augen.«
Er schenkte die Tassen voll, immer machte
er den Schenken, immer war er dienstfertig
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und lächelte dazu. Er ging mit dem leeren
Kruge weg, neuen Wein zu holen. Schmet-
ternd schrie die Karussellmusik.
»Gehen wir hinüber, es ist so schön«, bat
Thu Fu, und sie gingen hin, standen an der
bemalten Barriere, sahen im stechenden
Glanz der Pailletten und Spiegel das Karus-
sell im Kreise wüten, hundert Kinder mit
den Augen gierig am Glanze hängen. Ei-
nen Augenblick fühlte Klingsor tief und
lachend das Urtümliche und Negerhafte
dieser kreiselnden Maschine, dieser mecha-
nischen Musik, dieser grellen wilden Bilder
und Farben, Spiegel und irrsinnigen
Schmucksäulen, alles trug Züge von Medi-
zinmann und Schamane, von Zauber und
uralter Rattenfangerei, und der ganze wilde
wüste Glanz war im Grunde nichts andres
als der zuckende Glanz des Blechlöffels,
den der Hecht für ein Fischlein hält und an
dem man ihn herauszieht.
Alle Kinder mußten Karussell fahren. Al-
len Kindern gab Thu Fu Geld, alle Kinder
lud der Schatten ein. In Knäueln umgaben
sie die Schenkenden, hingen sich an, fleh-
ten, dankten. Ein schönes blondes Mäd-
chen, zwölfjährig, dem gaben sie alle, sie
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fuhr jede Runde. Im Lichterglanz wehte
hold der kurze Rock um ihre schönen Kna-
benbeine. Ein Knabe weinte. Knaben
schlugen sich. Peitschend knallten zur Or-
gel die Tschinellen, gossen Feuer in den
Takt, Opium in den Wein. Lange standen
die vier im Getümmel.
Wieder saßen sie dann unterm Baume, in
die Tassen goß der Armenier den Wein,
schürte Untergang, lächelte hell.
»Dreihundert Becher wollen wir heute lee-
ren«, sang Klingsor; sein verbrannter Schä-
del glühte gelb, laut schallte sein Gelächter
hin; Schwermut kniete, ein Riese, auf sei-
nem zuckenden Herzen. Er stieß an, er
pries den Untergang, das Sterbenwollen,
die Tonart Tsing Tse. Brausend erscholl
die Karussellmusik. Aber innen im Herzen
saß Angst, das Herz wollte nicht sterben,
das Herz haßte den Tod.
Plötzlich klirrte eine zweite Musik wütend
in die Nacht, schrill, hitzig, aus dem Hause
her. Im Erdgeschoß, neben dem Kamin,
dessen Gesimse voll schön geordneter
Weinflaschen stand, knallte ein Maschinen-
klavier los, Maschinengewehr, wild, schel-
tend, überstürzt. Leid schrie aus verstimm-
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ten Tönen, Rhythmus bog mit schwerer
Dampfwalze stöhnende Dissonanzen nie-
der. Volk war da, Licht, Lärm, Burschen
tanzten und Mädchen, auch die hinkende
Magd, auch Thu Fu. Er tanzte mit dem
blonden kleinen Mädchen, Klingsor sah
zu, leicht und hold wehte ihr kurzes Som-
merkleid um die dünnen schönen Beine,
freundlich lächelte Thu Fus Gesicht, voll
Liebe. An der Kaminecke saßen die an-
dern, vom
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