Klingsors letzter Sommer
Sonne
und Mond rennen gehetzt wie Amokläufer
über den Himmel, die Tage jagen sich, die
Zeit läuft einem davon, wie durch ein Loch
im Sack. Hoffentlich wird auch das Ende
dann ein plötzliches sein und diese betrun-
kene Welt untergehen, statt wieder in ein
bürgerliches Tempo zu fallen.
Die Tage über bin ich zu sehr beschäftigt,
als daß ich etwas denken könnte (wie ko-
misch das übrigens klingt, wenn man einen
0
solchen sogenannten »Satz« einmal laut vor
sich hinsagt: »als daß ich etwas denken
könnte«)! Aber am Abend fehlst Du mir
oft. Ich sitze dann meistens irgendwo im
Wald in einem der vielen Keller und trinke
den beliebten Rotwein, der zwar meistens
nicht gut ist, aber doch auch das Leben
tragen hilft und den Schlaf befördert. Ei-
nige Male bin ich sogar am Tisch im
Grotto eingeschlafen und habe unter dem
Grinsen der Eingeborenen bewiesen, daß
es mit meiner Neurasthenie doch nicht so
schlimm stehen kann. Manchmal sind
Freunde und Mädchen dabei, und man übt
seine Finger am Plastizin weiblicher Glie-
der und spricht über Hüte und Absätze und
die Kunst. Manchmal glückt es, daß eine
Temperatur erreicht wird, dann schreien
und lachen wir die ganze Nacht, und die
Leute freuen sich, daß Klingsor so ein lu-
stiger Bruder ist. Es gibt hier eine sehr
hübsche Frau, die jedesmal, wenn ich sie
sehe, heftig nach Dir fragt.
Die Kunst, die wir beide treiben, hängt,
wie ein Professor sagen würde, noch im-
mer eng am Gegenstand (wäre fein als Bil-
derrätsel darzustellen). Wir malen immer
noch, wenn auch mit etwas freier Hand-
schrift und für den Bourgeois aufregend
genug, die Dinge der »Wirklichkeit«: Men-
schen, Bäume, Jahrmärkte, Eisenbahnen,
Landschaften. Darin fügen wir uns noch
einer Konvention. »Wirklich« nennt ja der
Bürger die Dinge, die von allen oder doch
vielen ähnlich wahrgenommen und be-
schrieben werden. Ich habe im Sinn, sobald
dieser Sommer herum ist, eine Zeitlang nur
noch Phantasien zu malen, namentlich
Träume. Es wird darin zum Teil auch nach
Deinem Sinn zugehen, nämlich wahnsin-
nig lustig und überraschend, etwa so wie in
den Geschichten Collofinos des Hasenjä-
gers vom Kölner Dom. Wenn ich auch
fühle, daß der Boden unter mir etwas dünn
geworden ist, und wenn ich auch im gan-
zen mich wenig nach weitern Jahren und
Taten sehne, ich möchte doch immerhin
noch einige heftige Raketen dieser Welt in
den Rachen jagen. Ein Bilderkäufer schrieb
mir kürzlich, er sehe mit Bewunderung,
wie ich in meinen neuesten Arbeiten eine
zweite Jugend erlebe. Etwas daran ist ja
richtig. Zu malen habe ich eigentlich erst
dies Jahr recht angefangen, scheint mir.
2
Aber es ist weniger ein Frühling, was ich da
erlebe, als eine Explosion. Erstaunlich, wie
viel Dynamit in mir noch steckt; aber Dy-
namit läßt sich schlecht im Sparherd bren-
nen.
Lieber Louis, schon oft habe ich mich im
stillen darüber gefreut, daß wir zwei alten
Wüstlinge im Grunde so rührend scham-
haft sind und einander lieber die Gläser an
den Kopf schmeißen, als etwas von unsern
Gefühlen gegeneinander merken zu lassen.
Möge es so bleiben, alter Igel!
Wir haben dieser Tage in jenem Grotto bei
Barengo ein Fest mit Brot und Wein gefei-
ert, herrlich klang unser Gesang im hohen
Wald in der Mitternacht, die alten römi-
schen Lieder. Man braucht so wenig zum
Glück, wenn man älter wird und an den
Füßen zu frieren beginnt: acht bis zehn
Stunden Arbeit im Tag, einen Liter Pie-
monteser, ein halbes Pfund Brot, eine Vir-
ginia, ein paar Freundinnen, und allerdings
Wärme und gutes Wetter. Die haben wir,
die Sonne funktioniert prachtvoll, mein
Schädel ist verbrannt wie der einer Mumie.
An manchen Tagen habe ich das Gefühl,
mein Leben und Arbeiten beginne eben
3
erst, manchmal aber kommt es mir vor, ich
habe achtzig Jahre schwer gearbeitet und
habe bald einen Anspruch auf Ruhe und
Feierabend. Jeder kommt einmal an ein
Ende, mein Louis, auch ich, auch Du.
Weiß Gott, was ich Dir da schreibe, man
sieht, daß ich etwas unwohl bin. Es sind
wohl Hypochondrien, ich habe viel Au-
genschmerzen, und manchmal verfolgt
mich die Erinnerung an eine Abhandlung
über Netzhautablösung, die ich vor Jahren
gelesen haben.
Wenn ich durch meine Balkontür hinunter-
sehe, die Du kennst, dann wird mir klar,
daß wir noch eine gute Weile fleißig sein
müssen. Die Welt ist unsäglich schön
Weitere Kostenlose Bücher