Klingsors letzter Sommer
Versuch
zur Befreiung vom Gegenständlichen: ein
Antlitz wie eine Landschaft gemalt, Haare
an Laub und Baumrinde erinnernd, Au-
genhöhlen wie Felsspalten – sie sagen, dies
Bild erinnere an die Natur nur so wie man-
cher Bergrücken an ein Menschengesicht,
mancher Baumast an Hände und Beine er-
innert, nur von ferne her, nur gleichnishaft.
Viele aber sehen im Gegenteil gerade in
diesem Werk nur den Gegenstand, das Ge-
sicht Klingsors, von ihm selbst mit uner-
bittlicher Psychologie zerlegt und gedeu-
tet, eine riesige Konfession, ein rücksichts-
loses, schreiendes, rührendes, erschrecken-
des Bekenntnis. Noch andere, und darun-
ter einige seiner erbittertsten Gegner, se-
hen in diesem Bildnis lediglich ein Produkt
und Zeichen von Klingsors angeblichem
Wahnsinn. Sie vergleichen den Kopf des
Bildes mit dem naturalistisch gesehenen
Original, mit Photographien, und finden in
den Deformationen und Übertreibungen
der Formen negerhafte, entartete, atavisti-
sche, tierische Züge. Manche von diesen
halten sich auch über das Götzenhafte und
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Phantastische dieses Bildes auf, sehen eine
Art von monomanischer Selbstanbetung
darin, eine Blasphemie und Selbstverherr-
lichung, eine Art von religiösem Größen-
wahn. Alle diese Arten der Betrachtung
sind möglich und noch viele andere.
Während der Tage, die er an diesem Bilde
malte, ging Klingsor nicht aus, außer des
Nachts zum Wein, aß nur Brot und Obst,
das ihm die Hauswirtin brachte, blieb un-
rasiert und sah mit den unter der verbrann-
ten Stirn tief eingesunkenen Augen in die-
ser Verwahrlosung in der Tat erschreckend
aus. Er malte sitzend und auswendig, nur
von Zeit zu Zeit, fast nur in den Arbeits-
pausen, ging er zu dem großen, altmodi-
schen, mit Rosenranken bemalten Spiegel
an der Nordwand, streckte den Kopf vor,
riß die Augen auf, schnitt Gesichter.
Viele, viele Gesichter sah er hinter dem
Klingsor-Gesicht im großen Spiegel zwi-
schen den dummen Rosenranken, viele Ge-
sichter malte er in sein Bild hinein: Kinder-
gesichter süß und erstaunt, Jünglingsschlä-
fen voll Traum und Glut, spöttische Trin-
keraugen, Lippen eines Dürstenden, eines
Verfolgten, eines Leidenden, eines Suchen-
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den, eines Wüstlings, eines enfant perdu.
Den Kopf aber baute er majestätisch und
brutal, einen Urwaldgötzen, einen in sich
verliebten, eifersüchtigen Jehova, einen
Popanz, vor dem man Erstlinge und Jung-
frauen opfert. Dies waren einige seiner Ge-
sichter. Ein andres war das des Verfallen-
den, des Untergehenden, des mit seinem
Untergang Einverstandenen: Moos wuchs
auf seinem Schädel, schief standen die alten
Zähne, Risse durchzogen die welke Haut,
und in den Rissen stand Schorf und Schim-
mel. Das ist es, was einige Freunde an dem
Bild besonders lieben. Sie sagen: es ist der
Mensch, ecce homo, der müde, gierige,
wilde, kindliche und raffinierte Mensch
unsrer späten Zeit, der sterbende, sterben-
wollende Europamensch: von jeder Sehn-
sucht verfeinert, von jedem Laster krank,
vom Wissen um seinen Untergang enthu-
siastisch beseelt, zu jedem Fortschritt be-
reit, zu jedem Rückschritt reif, ganz Glut
und auch ganz Müdigkeit, dem Schicksal
und dem Schmerz ergeben wie der Morphi-
nist dem Gift, vereinsamt, ausgehöhlt, ur-
alt, Faust zugleich und Karamasow, Tier
und Weiser, ganz entblößt, ganz ohne Ehr-
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geiz, ganz nackt, voll von Kinderangst vor
dem Tode und voll von müder Bereit-
schaft, ihn zu sterben.
Und noch weiter, noch tiefer hinter all die-
sen Gesichtern schliefen fernere, tiefere,
ältere Gesichter, vormenschliche, tierische,
pflanzliche, steinerne, so als erinnere sich
der letzte Mensch auf Erden im Augen-
blick vor dem Tode nochmals traum-
schnell an alle Gestaltungen seiner Vorzeit
und Weltenjugend.
In diesen rasend gespannten Tagen lebte
Klingsor wie ein Ekstatiker. Nachts füllte
er sich schwer mit Wein und stand dann,
die Kerze in der Hand, vor dem alten Spie-
gel, betrachtete das Gesicht im Glas, das
schwermütig grinsende Gesicht des Säu-
fers. Den einen Abend hatte er eine Ge-
liebte bei sich, auf dem Diwan im Studio,
und während er sie nackt an sich gedrückt
hielt, starrte er über ihre Schulter weg in
den Spiegel, sah neben ihrem aufgelösten
Haar sein verzerrtes Gesicht, voll Wollust
und voll Ekel vor der Wollust, mit geröte-
ten Augen. Er hieß sie morgen wiederkom-
men, aber Grauen hatte sie gefaßt, sie kam
nicht
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