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Klippen

Klippen

Titel: Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Adam
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ruhigen Wasser und löste sich sogleich wieder auf.
    Danach sah ich ihn nie wieder, er ließ nichts mehr von sich hören. Ich habe keine Ahnung, ob er immer noch dieses Leben fuhrt, ob er irgendwann sesshaft geworden oder ob er tot ist.
     
     
     
     
     
     
    Nach Antoines Auszug blieb ich noch ein paar Monate allein bei meinem Vater. In dieser Phase arbeitete er weniger, er verbrachte die meiste Zeit im Haus, ging kaum noch hinaus, nicht einmal in den Garten, den er schließlich der Verwahrlosung überlassen hatte. Er schlug die Tage vor dem Fernseher oder mit der ausgedehnten Lektüre von Autozeitschriften tot. Die Mahlzeiten nahmen wir getrennt ein, und ich war so wenig wie möglich zu Hause oder verkroch mich in meinem Zimmer. Wir liefen uns nur gelegentlich über den Weg, aber ich lebte in der absurden Angst, er könnte eines Tages mit einem Baseballschläger oder einer Holzlatte in mein Zimmer kommen und ohne Vorwarnung auf mich eindreschen, bis ich bewusstlos wurde.
    Mit siebzehn zog ich wortlos aus. Wie mein Bruder ließ ich danach nichts mehr von mir hören, aber ich glaube auch nicht, dass mein Vater je versucht hat, etwas über mich in Erfahrung zu bringen. Ich sah ihn erst ein Jahr später wieder, und das war unsere letzte Begegnung. Es war Sommer, und ich verdiente meinen Lebensunterhalt als Nachtportier im Viertel Strasbourg-Saint-Denis. Das Hotel beherbergte Einwanderer, die größtenteils nachts arbeiteten und tagsüber schliefen. In ihrer Abwesenheit vermieteten wir ihre Zimmer an die albanischen, afrikanischen oder chinesischen Prostituierten, die am Boulevard de Strasbourg auf den Strich gingen. Ich weiß nicht, warum, aber in meinem Kopf spukte die Vorstellung herum, dass mein Vater eines Tages am Arm einer dieser Frauen auftauchen könnte, dass ich ihm gegenübertreten, ihn grüßen und die hundertfünfzig Francs kassieren müsste, die er mir mit einer Miene hinhielt, als erkenne er mich nicht oder habe mich aus seinem Gedächtnis gestrichen. Aber das geschah nie. Ich begegnete ihm eines Abends auf dem Weg zur Arbeit in einer nahe gelegenen Bar, in der ich Stammgast war. Er trank ein Bier, sein Gesicht war hager und einem Fernseher zugewandt, in dem Pferderennen liefen. Er trug eine Schirmmütze, eine zu weite Hose und wirkte auf mich erschreckend zerbrechlich und gealtert. Als ich ihn so sah, winzig, unbedeutend, fragte ich mich, warum mein Bruder und ich solche Angst vor ihm gehabt hatten. Die Füße inmitten von Zuckertütchen, Zigarettenkippen und Wettscheinen, bestellte ich einen Kaffee. Im schummrigen Licht folgte ein Rennen auf das andere, an den gelben Resopaltischen saßen Männer und kreuzten Kästchen an. Von Zeit zu Zeit blickten sie auf, führten ihr Glas an den Mund und sahen den im Kreis rennenden Pferden zu. Einige sprangen über die Hindernisse, andere schafften es nicht, landeten langgestreckt auf der schlammigen Rennbahn und begruben ihren Jockey, einen Dreikäsehoch, unter sich. Der Wirt begrüßte mich mit einem Nicken, wischte sich die Hände an seiner schwarzen Schürze ab und rief mir sein übliches: »Na, Monsieur Olivier, wie geht’s uns heute Abend?« zu. Mein Vater drehte sich nicht um, als mein Name fiel, aber das war ganz normal, schließlich liefen jede Menge Typen mit meinem Vornamen herum, wohingegen ich natürlich jedes Mal zusammenzucke, wenn ich Mamans oder Chloés, Antoines oder Lorettes Namen höre, selbst im Kino oder Fernsehen. Ich trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. Es war das erste Mal, dass ich ihn auf diese Weise berührte. Er drehte sich um, ohne eine Miene zu verziehen. »Wie geht’s? Was machst du denn so?« Das war alles, was er sagte. Dann starrte er, ohne die Antwort abzuwarten, wieder den Fernseher an. Ich bezahlte meinen Kaffee und ging hinaus. Ich erinnere mich noch, dass es regnete und so finster war, als wäre es bereits Nacht. Dabei wurde es erst zwei Stunden später dunkel.
    Ich weiß nichts über meinen Vater. In den drei Jahren vor dem Tod meiner Mutter fehlt er in meinen Erinnerungen. Und was den Rest angeht, herrscht schwärzeste Nacht. Ich weiß überhaupt nichts über ihn, aber manchmal träume ich unwillkürlich, dass er früher anders war, dass er mit uns redete, uns küsste, uns zulächelte, dass er sich Zeit nahm, um mit uns zu spielen, Fahrrad zu fahren, zum Fußballtraining zu gehen oder einfach nur unsere Hausaufgaben durchzusehen. Das träume ich, aber ich erinnere mich an nichts. Er hat nie von sich

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