Klippen
vergessen wollte.
Das Telefon klingelte, es war mitten in der Nacht. Er sagte nur: »Ich bin’s.« Claire wälzte sich grummelnd im Schlaf und murmelte mit belegter Stimme: »Wer ist es?« Den Hörer ans Ohr gepresst, ging ich aus dem Zimmer. An seinem Atem, seinem Schweigen erkannte ich, dass seine Kehle wie zugeschnürt war und er getrunken hatte. Ich fragte ihn, wo er sei, und wie immer antwortete er: »Am anderen Ende der Welt. Wo soll ich schon sein?« Ich hatte ihn seit zehn Monaten nicht gesehen. Das letzte Mal war in Brest gewesen, ich hatte mich dort mit ihm getroffen, und wir hatten die Nacht im Recouvrance-Viertel durchzecht. Am nächsten Morgen hatte sein Schiff mit Kurs auf Ägypten, Chile, New York und Finnland abgelegt.
Er rief mich aus einer Bar in Australien an. Dort tranken die Männer das Bier literweise, nie weniger. Nachmittags hatte er sich einen Geländewagen geliehen und zum ersten Mal einen Ausflug gemacht, dabei hatte er drei Känguruhs überfahren. Ich fehlte ihm, das sagte er zu mir, und auch, dass ich sein kleiner Lieblingsbruder sei, und fast spürte ich, wie er mit der Hand mein Haar zerstruwwelte. Er fragte mich, was es Neues gab. Ich konnte ihm nichts Besonderes erzählen. Ich wollte nur, dass er weiterredete, wollte seine Stimme hören und dabei einschlafen. Wollte mir einreden, dass er ganz nah war. Dass er glücklich war und sein Leben ihm taugte. Er sprach weiter, und schon bald sprudelte ein Wortschwall aus ihm heraus, der weder Anfang noch Ende hatte, er weinte und verschluckte die Wörter halb. Er erzählte von einem Mädchen und davon, wie sehr ihm die Kleine wehgetan, von einem Fieberanfall, der ihn zwei Wochen lang nachgelegt hatte. Von Laetitia, die ihm fehlte, von Maman und ihrem Totengesicht. In seiner Phantasie sah er sie immer so und nie anders, mit knochigem, gepudertem Gesicht und geschlossenen Lidern. Von ihrer Stimme, die er vergessen hatte. Der weichen Haut an ihrem Hals, die er als kleiner Junge geküsst hatte.
»Wann kommst du zurück?«
»In zwei Monaten. Ich habe Aufenthalt in Marseille.«
»Sag mal, Antoine, war Papa eigentlich schon immer so?«
»Wovon redest du?«
»War er schon immer so oder erst seit Mamans Tod? Ich erinnere mich nicht. Ich erinnere mich nicht, wie er vorher war. Ich weiß nicht mehr, wie er zu uns war, ob er uns wenigstens ein bisschen mochte oder so.«
Mein Bruder antwortete nicht. Nachdem er aufgelegt hatte, heulte ich im Wohnzimmer wie ein Schlosshund. Durchs Fenster sah ich das Haus gegenüber, die rissigen Mauern und, weiter unten, die schwarzen Pflastersteine, wo ein paar sieche Pflanzen verkümmerten.
Zwei Monate später nahm ich einen Tag Urlaub und den Zug nach Marseille. Ich wartete in einem Café am Vieux Port auf ihn. Die Männer unterhielten sich laut miteinander, es roch nach Bier und Pastis, und auf dem riesigen Bildschirm rannten Fußballspieler hin und her. Er kam mit seiner Umhängetasche und einer Zigarette zwischen den Zähnen. Er sagte zu mir: »Komm, lass uns hier abhauen«, und wir irrten aufs Geratewohl durch die Straßen des Panier-Viertels. Manchmal blitzte zwischen den orangefarbenen unverputzten Mauern unvermutet der Horizont auf, und zu unseren Füßen lag das schwer mit eisengrauen Frachtern befahrene Meer. Wir nahmen ein Zimmer in einem Hotel mit Blick auf die kleinen Felsbuchten. Rundherum war es ziemlich laut, auf der Straße und am Strand brüllten Menschen durcheinander, irgendwo dudelte arabische oder afrikanische Musik. An der Zimmerdecke drehten sich träge die Blätter eines Ventilators. Wir lagen nebeneinander auf dem malvenfarbenen Laken, die Luft streichelte unsere Haut. Wir schwiegen und lauschten dem Meer. Anderswo höre es sich nicht so an, sagte er. An jedem Ort, an dem er haltmache, höre sich das Meer anders an. Ich weiß nicht mehr, worüber wir sonst noch redeten. Ich weiß nur noch, dass uns heiß war und ich den Schweiß auf seinem Arm an meinem spürte, dass unsere Haut stellenweise aneinanderklebte und ich mir wünschte, das möge nie aufhören. In der Morgendämmerung gingen wir hinunter zu den Stränden, und er badete nackt, während es hell wurde. Er zeigte mir seine neuen Tätowierungen auf Rücken und Brust, ich sagte zu ihm, dass sie mir gefielen. Da war es wieder, das kleine Lächeln auf seinen Lippen, das ich schon immer geliebt hatte und das er aufsetzte, wenn er merkte, dass er Eindruck auf mich machte. Plötzlich schwamm, eine knappe Sekunde lang, meine Mutter im
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