Klippen
erzählt, hat mir nie etwas anvertraut, weder aus seiner Kindheit noch darüber, wie er Maman kennengelernt oder was er beruflich gemacht hatte, bevor er Taxiunternehmer wurde, oder wie er seinen Taxischein finanziert, in welchem Alter er angefangen, ob er vorher studiert, ob er als junger Mann gearbeitet hatte oder nicht. Ich weiß nichts, nur dass er mit seinen Geschwistern in einer Dreizimmerwohnung in Clamart gelebt hatte, dass er einer der Jüngsten gewesen war und sein Vater es nicht duldete, dass bei Tisch gesprochen wurde. Ich habe nur sehr wenige Fotos von ihm. Eins beim Militärdienst, eine Zigarette im Mund und die Wange am Sturmgewehr, ein anderes als Zehnjähriger im Unterricht, akkurater Linksscheitel, gebügeltes Karohemd, das kaum unter dem Schulkittel hervorschaut, den Umständen entsprechendes angestrengtes Lächeln, und das ist so ungefähr alles. Dann gibt es noch Abzüge, auf denen meine Mutter zu sehen ist, und zwar vor Antoines Geburt. Mamans Haarfarbe wechselt darauf ebenso häufig wie ihre Kleider. Mein Vater ist nur selten zu sehen, meist posiert er mit dünnem Lächeln, manchmal macht er Faxen und wirkt dabei entspannt und sympathisch. Auf mehreren Fotos legt er meiner Mutter beim Spaziergang den Arm um die Taille oder küsst sie, oder beide lachen schallend, er nur mit Shorts bekleidet, sie im Badeanzug, mit einem Tuch im Haar am Steuer eines Citroen DS oder im Liegestuhl auf der Terrasse eines Ferienhauses im Departement Lot oder Pyrenées. Diese Fotos sind Beweise. Ich habe nichts anderes, auf das ich mich stützen kann. Diese Fotos sind die einzigen Zeugnisse der möglichen Zärtlichkeit meines Vaters, seiner Warmherzigkeit, seiner Liebe, ja, seiner Menschlichkeit.
III
Unter freiem Himmel
Ich bin aus dem Zimmer gegangen und habe Claire und Chloé ihrem engelhaften Schlaf überlassen. Die Nacht neigt sich langsam dem Ende zu. Die Promenade ist menschenleer, von einem eisigen Wind überfroren. Ich begegne Schatten, windgepeitschten Gestalten, unsichtbaren Gesichtern. Ich komme an Hotels mit dunklen Fenstern, an Bars mit aufgeräumten Tischen vorbei. Ich höre Kinderweinen, und mein Herz zieht sich zusammen.
Am Ende des Zementstreifens fuhrt eine Treppe in die Nacht, und mit jedem Schritt sehe ich ein bisschen weniger. Rechts zuckt das Meer wie ein Muskel, es hat sich meterweit von den Klippen zurückgezogen und dunklen Sand und graue Kiesel freigelegt, es erfüllt die Luft und scheint die ganze Welt auszumachen. Ich folge den Schritten meiner Mutter, wie sie in tiefer Finsternis, meine Lungen füllen sich mit Wind und dem rauen Duft des Wassers. Ich wandle auf ihren Spuren, mein Gedächtnis ist wie der Himmel, über den anthrazitfarbene Wolken ziehen, und meine Kindheit, unter wie vielen Kilo Sand liegt sie verschüttet?
Ich folge den Schritten meiner Mutter, gehe ihrem Tod entgegen, mehrmals stürze ich, und meine Knie sind voller Erde, an meinen Handflächen klebt Matsch, knirschen Kiesel. Schon bald erreiche ich den höchsten Punkt der Klippen, sie erstrecken sich über Kilometer, schrundig und zerklüftet. Ich kann nichts sehen, der Wind drückt mich nach hinten, berauscht mich, brennt mir in den Augen. Ich trete an den äußersten Rand, ich könnte nun die Augen schließen und zu erahnen versuchen, wo das Land endet, könnte diesen einen zusätzlichen Schritt machen und zerstückelt, zerfetzt, zerschmettert Dutzende von Metern weiter unten im Sand liegen bleiben.
Ich gehe den Schritten meiner Mutter nach, höre ihre Stimme, sehe sie vor mir, lebendig und leicht, sehe ihr eingefallenes Gesicht unter dem langen Haar. Und plötzlich verschwindet sie. Ein paar Vögel fliegen vorbei, und ich könnte schwören, dass mich ihre Flügel streifen, sie stoßen Schreie aus, und ich antworte ihnen. Eigentlich weiß ich, dass es hier nur wenige gibt, aber um mich herum sind Tausende, sie geben mir kreischend das Geleit. Mantel-, Herings-und Sturm-, Silber-oder Spott-, Lach-oder Bonapartemöwen, Regenpfeifer, Seeschwalben von Dougall, Raub-, Rüppell-oder Zügelseeschwalben, Reiher, Zwergsäger und Papageitaucher, Trottellummen, Basstölpel, Kormorane, Sturmschwalben, Sturmtaucher, Sturmvögel, Fulmare und Austernfischer kreisen endlos über den Klippen, von deren Umrissen, Anfang und Ende ich nichts weiß.
Um mich herum ist ein einziges Pfeifen, ich bin eins mit dem Wind, dem Tosen des Meeres, dem
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