Klippen
ich die Musik laut stellte, sodass sie alles übertönte. Die Nachbarin, eine unter Verfolgungswahn leidende alte Spanierin, fing dann jedes Mal an zu toben, sie kam aus ihrem Zimmer, beschimpfte mich als Wilden, befahl mir, diesem Höllenlärm ein Ende zu machen, und drohte, die Bullen zu rufen. Sie hat sie nie gerufen, und im Übrigen glaube ich, dass sie sie fürchtete wie die Pest. Mehrmals lief sie mir im Erdgeschoss über den Weg, wenn ich meine Post holte, und dabei vertraute sie mir an, dass ihre systematisch gestohlen oder vielmehr am Absendeort auf Anordnung der obersten Staatsbehörden zurückgehalten, kontrolliert, geöffnet und ihr Briefgeheimnis verletzt wurde. Sie behauptete, sie könne mir so manche Geschichte erzählen, und alle liefen auf eine obskure Verschwörungstheorie hinaus. In ihrem düsteren Zimmer mit den schwarzen Spitzendeckchen auf den Möbeln und den mit Kreuzen, Madonnenbildern und bemalten Tellern aus Lourdes tapezierten Wänden lächelte ein goldgerahmter Jacques Chirac neben Johannes Paul II. Sie gab vor, die beiden persönlich zu kennen. Sie war vollkommen unberechenbar, und wenn ich an ihrer Tür vorbeiging, wusste ich nie, ob sie sie aufreißen und mich tausenderlei Verbrechen bezichtigen würde (von denen das schlimmste darin bestand, mitten in der Nacht die Klospülung zu ziehen, denn die Gemeinschaftstoiletten befanden sich direkt neben ihrem Zimmer, und sie selbst benutzte sie nie, sondern behalf sich, wie sie mir eines Tages erzählt hatte, mit einer Plastikschüssel; sie hatte Wert daraufgelegt, mir diese auch zu zeigen, und ich hatte sie in dieser Schüssel wiederholt ihre Wäsche waschen sehen), oder ob sie mich, im Gegenteil, zu sich einlud und darauf bestand, mir Tee mit durchgeweichten feuchten Plätzchen zu servieren, die sie aus verzierten Blechschachteln holte, und mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit Anekdoten aus dem Privatleben des Papstes und des Bürgermeisters von Paris aufzutischen.
Ich wohnte vier Jahre in diesem Zimmer und erlebte, wie es mit meinem serbischen Nachbarn im Lauf der Tage bergab ging, seine Zähne und seine Haut färbten sich gelb, unter seinen Augen setzten sich dunkle Ringe fest, seine Nase wurde rund und rot, Poren so tief wie Krater überzogen sie, sein Geruch wurde säuerlich. Ich erlebte, wie seine Worte versiegten, sein schallendes Lachen und die im Vollrausch gesungenen Lieder immer seltener und von einem Husten entstellt wurden, der ihn nicht mehr losließ. Zum Schluss sagte er fast überhaupt nichts mehr und verließ sein Zimmer nur noch, um zu pinkeln oder Wasser am Hahn zu holen.
Mein Zimmer lag in der Mitte des Flurs und wurde von zwei weiteren Zimmern flankiert. Im linken wohnte ein dicker Russe um die vierzig, der als Kellner in einem nahe gelegenen Restaurant arbeitete und mich aufgrund meiner Tätigkeit im Gastronomiegewerbe ausnahmslos mit Kollege ansprach. Er kam mitten in der Nacht von der Arbeit, und wenn ich zu Hause war, konnte ich ihn duschen, den Fernseher einschalten und eine halbe Stunde später schnarchen hören. Er stand gegen Mittag auf verbrachte den Nachmittag in seinem Zimmer und trug die ganze Zeit einen bordeauxroten Bademantel, den er erst abends ablegte, wenn er, das pomadisierte Haar nach hinten gekämmt und die Wangen von der frischen Rasur gerötet, in seine schicke schwarze Kellnerkluft schlüpfte. Ich begegnete ihm manchmal auf dem Flur, aber ab und zu klopfte er auch an meine Tür. Unsere Wochenenden verliefen nach demselben Muster: Wir arbeiteten die ganze oder einen Teil der Nacht und schliefen tagsüber, nachmittags dösten wir oder hingen müde herum. Er lud mich gelegentlich auf einen Drink in sein unbeschreibliches Zimmer ein, in dem es nach Alkohol und Sperma, Schweiß und kaltem Tabak roch. Die Wände waren von oben bis unten mit Fotos nackter Mädchen gepflastert, die ihre Beine spreizten und ihr rasiertes rosafarbenes, rotes oder violettes Geschlecht entblößten. Der Fernseher war immer an, es liefen russische Videos mit kruden grauen Bildern, als Dutzendware produzierte Low-Budget-Serien mit hingepfuschtem Drehbuch und stümperhaften Darstellern, furchteinflößende Clips, in denen als Militärs verkleidete Musiker in ihrer Muttersprache frech Depeche Mode, AC/DC oder Guns N’Roses nachäfften. Er machte es sich auf seinem Ledersofa bequem und überließ mir den Sessel, sein Bademantel gab den Blick auf seinen verfetteten unbehaarten Oberkörper frei, aus seiner zu großen
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