Klondike
vor ihnen aufgetan, aber dann verengte sich das Flußbett wieder, das Wasser strömte rascher, und die Straße wurde zu einem schmalen Kanal. Der Blick reichte endlos weit, die Einsamkeit war geradezu erschreckend, doch überwältigt waren sie während der Nachtfahrten, wenn die gigantischen Nordlichter helleuchtende Muster am Firmament zeichneten und sich der Himmel mit elektrischer Spannung auflud.
Eines Nachts, als Luton und Trevor Blythe gerade Dienst taten, während die anderen friedlich in dem kleinen Deckhaus schlummerten, zog sich das grandiose Schauspiel über sagenhafte drei Stunden hin. Am Ende verkündete Trevor: »Ich habe die neue Seite in meinem Tagebuch mit ›Borealis‹ überschrieben. Wäre das nicht ein wunderbarer Titel für ein kleines Bändchen mit Gedichten über die Arktis?«
Der Abschnitt ihrer Reise, der nun folgte, verwickelte sie in eines der erregendsten und gefährlichsten Spiele der Natur, und Luton und seine Männer gaben sich aus freien Stücken diesem Spiel hin. Sie hatten immer gewußt, daß der Mackenzie ungefähr parallel zum Yukon verlief, dem Fluß, der ihr eigentliches Ziel war und der sich sein Bett drei- bis vierhundert Meilen weiter westlich gegraben hatte. Die Frage, die sie sich unentwegt stellten, lautete: »Wo ist die für uns günstigste Stelle, den
Mackenzie zu verlassen und zum Yukon überzuwechseln, um uns dann bis Dawson treiben zu lassen?«
Es gab viele Unwägbarkeiten in diesem Spiel, denn vom Westen her mündeten zahlreiche einladende Bäche in den Mackenzie, beachtliche Flüsse zum Teil, und folgte man ihnen flußaufwärts bis zum Oberlauf, paddelnd oder sein Boot tragend, kam man wieder an einen Fluß, der zum Yukon hinunterfloß. Sie mochten noch so einladend aussehen, bei jeder Route galt es, zwei schier unüberwindliche Hindernisse zu meistern. Es würde mörderisch anstrengend werden, flußaufwärts zu rudern, also gegen den Strom, falls sie zu früh überwechselten, und in jedem Fall mußten sie immer noch das schwere Boot und die gesamte Ausrüstung über die Hauptwasserscheide, die Rocky Mountains, schleppen, wie Harry Carpenter nicht müde wurde zu erinnern.
Was sich nun im folgenden ereignete, war höchst seltsam.
Die Reisenden verfielen in eine Art Trance; sie wußten zwar, daß der Winter nahte, aber das Klima blieb verführerisch mild, und oft trugen sie an Deck nichts außer einem dünnen Hemd, Die Sonne schien warm, und der mächtige Strom lullte die Männer geradezu ein, so zielstrebig lockte er sie nach Norden und führte sie immer näher an den Polarkreis heran. So gleichmäßig zog er sie davon, so sanft und doch geschwind war die Strömung, als schien sie zu singen: »Keine Angst, keine Angst, nicht fort von den Goldfeldern führe ich euch, nein, immer näher, immer näher rückt unser Ziel.« Das Ziel jedoch, auf das der Fluß zustrebte, war die Arktis, und das war nicht das Ziel der Männer.
Jeder an Bord der »Sweet Afton« war sich darüber im klaren: Der Winter stand bedrohlich nah vor der Tür, ein Umstand, der es erforderlich gemacht hätte, schnellstmöglich einen Platz zu suchen, auf dem sie ihr Lager hätten aufschlagen und die sieben oder acht Monate überwintern können, statt dessen aber ließen sie sich treiben, ohne den Mut aufzubringen, endlich die schwere Entscheidung zu treffen, wo sie denn nun den Winter über bleiben wollten, um anschließend die Rockies zu überqueren und auf dem Yukon weiterzufahren. Die unendliche Weite des Nordens, die Furcht vor den verzwickten Fragen, die einer Antwort harrten, und nicht zuletzt die einlullenden Verlockungen des Mackenzie, all das hatte ihre Moral untergraben. »Wir müssen zu einem Entschluß kommen, möglichst bald«, wiederholte Lord Luton jedesmal, wenn er den Sonnenuntergang beobachtete, als wollte er am nächsten Morgen mit aller Gewalt eine Entscheidung herbeiführen, aber war der neue Tag erst einmal angebrochen, wälzte sich der friedliche Fluß weiter Richtung Norden, trug das Boot mit sich fort - und wieder wurde die Entscheidung hinausgezögert.
Es war wie zu erwarten der Dichter unter ihnen, Trevor Blythe, der ein angemessenes Bild für ihr sonderbares Verhalten fand. »Wir streben vorwärts, wie alle berühmten Seefahrer, auf der Suche nach unserem Gral, aber wir nähern uns dem Ziel, indem wir davonlaufen, als hätten wir Angst davor, den Schwarzen Berg zu erklimmen, hinter dem sich das Gesuchte schützend verbirgt.«
Eines Tages in der Dämmerung, es war
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