Klondike
bereits Oktober, entdeckte Luton einen kleinen Strom, der sich vom Westen her in den Mackenzie ergoß, und nach längerer Musterung kam er zu dem Schluß: »Ich glaube, das muß der Gravel sein.« Alle drängten zur Backbordseite, um einen Blick auf diesen geheimnisvollen und doch eher unauffälligen Fluß zu werfen, denn sie ahnten, daß dies die letzte lebensrettende Wasserader war, für die sie sich entscheiden mußten, wollten sie sich nicht dem Irrgarten aus Nebenflüssen und Zuflüssen am Delta ausliefern, da, wo der Mackenzie in die Beaufort Sea mündet.
Wenn sie sich dazu durchringen konnten, hier den Mackenzie zu verlassen und den Gravel aufwärts zu rudern, würden sie am Oberlauf den besten Trageplatz zur Überquerung der Rockies vorfinden und außerdem einen wunderschönen, leicht befahrbaren Fluß, den Stewart, der sie im Frühjahr in Windeseile bis Dawson bringen würde. Lord Luton, voll Freude über diese herrlichen Aussichten, rief: »Wir werden heute abend in der Mündung vor Anker gehen und morgen früh entscheiden, ob wir uns weiter den Mackenzie hinuntertreiben lassen wollen oder nicht«, worauf seine Männer die »Sweet Afton« nach Backbord drehten, auf den Gravel zu, um dort über Nacht zu ankern und sich am nächsten Morgen der schweren Entscheidung zu stellen.
Aber noch einmal konnte die unangenehme Pflicht aufgeschoben werden, denn kaum war der Tag angebrochen, verkündete Carpenter: »Ich glaube, die Wahl, wo wir überwintern sollen, hat schon jemand anders für uns getroffen.« Die Männer schauten aufs Wasser und sahen, daß beide Flüsse, der große und der kleine, von den Rändern her zuzufrieren begannen. Das Eis reichte noch nicht sehr weit von den Ufern in den Fluß hinein, aber zarte Eisfinger umschlossen bereits ihr Boot, eine ernstzunehmende Warnung, daß schon bald das gesamte Flußsystem mit einer einzigen Eisdecke überzogen sein würde.
»Ich muß sagen«, gestand Luton, als er die Lage untersucht hatte, »das kommt reichlich überraschend. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich wollte unbedingt bis Fort Norman kommen. Es können nicht mehr als achtzig Meilen flußabwärts sein.«
»Milord«, sagte Harry daraufhin, und indem er ihn mit seinem offiziellen Titel anredete, unterstrich er noch, wie ernst es ihm mit dem war, was er zu sagen hatte. »Du hast recht. Es sind nur noch ein paar Meilen bis Norman. Aber in Edmonton und auch in Athabaska haben sie uns gewarnt, daß der Mackenzie im Nu zufrieren kann«, wobei er mit den Fingern schnippte. »Wenn wir in der Mitte dieses gewaltigen Flusses vom Eis überrascht werden und die Brocken uns von allen Seiten zerquetschen, dann werden wir gnadenlos zwischen zwei Schollen zerrieben, und von dem Boot bleiben nichts als Späne
übrig.«
Luton benötigte nur wenige Augenblicke, den Ernst dieser Aussage zu erkennen: »Wir bauen unsere Hütte ein paar Yards flußaufwärts. So entkommen wir dem Eis.« Mit Hilfe langer, um Uferbäume gewickelter Warpleinen bugsierten die Männer die »Sweet Afton« aus dem größeren der beiden Flüsse heraus und machten sie ein kurzes Stück den Gravel aufwärts am linken Ufer fest.
Ironischerweise war Luton nun doch gezwungen, sich für den Gravel zu entscheiden, aber nur als einen sicheren Hafen zum Überwintern und nicht als Wasserstraße nach Westen, zum weniger gefährlichen Yukon.
2. Kapitel
Mut
Der Lebensstil, den sich Lord Lutons Gruppe in ihrer Zufluchtstätte am linken Ufer des Gravel aneignete, entwickelte sich aus gemeinschaftlichen Diskussionen, denn Evelyn handelte nicht diktatorisch, mit Ausnahme bei Entscheidungen, die ein Urteil über Wohl und Wehe seiner Unternehmung bedeutet hätten. Er war leuchtendes Beispiel des altehrwürdigen englischen Prinzips »noblesse oblige«, stets daran denkend, daß er als Adliger die moralische Verpflichtung hatte, sich seiner Umgebung gegenüber ehrenhaft und großzügig zu erweisen. Bei Entscheidungen, die auch Fogarty betrafen, erlaubte er sogar, daß der Ire zu den Gesprächen hinzugezogen wurde. »Wir sind zivilisierte Menschen«, pflegte Luton gern zu sagen, »und werden uns dementsprechend aufführen.«
Sein Führungsstil offenbarte sich, sobald die »Sweet Afton« sicher an Land vertäut war, denn was den Platz und die Größe ihres Winterquartiers betraf, erbat er den Rat jedes einzelnen Mitglieds ihrer Gemeinschaft. »Ihr werdet von Oktober bis Mai darin verbringen, also teilt mir gefälligst eure Ansicht mit.«
Er fing an, ein nach
Weitere Kostenlose Bücher