Kloster Northanger
aber jede Scheibe war so groß, so klar, so hell! Für jemanden, der in seiner Phantasie ganz kleine Butzenscheiben und sehr schweres Mauerwerk, Glasmalerei, Schmutz und Spinnweben erwartet hatte, war der Unterschied recht ernüchternd.
Da der General beobachtete, wie sie sich musternd umsah, begann er von der Kleinheit des Raumes und der Schlichtheit des Mobiliars zu sprechen, das für den täglichen Gebrauch bestimmt war und lediglich Anspruch auf Bequemlichkeit erhob usw.; er schmeichle sich allerdings, dass es im Kloster auch einige Räume gebe, die ihrer Aufmerksamkeit nicht unwürdig seien, und war schon im Begriff, besonders die kostbare Vergoldung in einem von ihnen zu erwähnen, als er sich nach einem Blick auf seine Taschenuhr unterbrach und zu seiner Überraschung feststellte, dass es schon zwanzig vor fünf war! Das war anscheinend das Stichwort zur Trennung, denn Catherine merkte, dass Miss Tilney mit ihr auf eine Weise aus dem Zimmer eilte, die ihr klarmachte, dass man in Northanger die strikteste Pünktlichkeit im tagtäglichen Ablauf erwartete.
Sie kehrten durch den großen, hohen Saal zurück und schritten eine breite Treppe aus polierter Eiche hinauf, auf der sie nach vielen Stufen und vielen Absätzen auf eine lange, breite Galerie kamen. Diese hatte an einer Seite eine Flucht von Türen und wurde auf der anderen von Fenstern erhellt, die auf einen quadratischen Innenhof hinuntersahen, wie Catherine noch gerade erkennen konnte, bevor Miss Tilney in ein Zimmer voranging, sich kaum für den Wunsch Zeit nahm, sie möge sich darin recht wohl fühlen, und sie mit der dringlichen Bitte allein ließ, möglichst wenig Zeit zum Umkleiden zu brauchen.
Kapitel 21
Ein kurzer Blick genügte, um Catherine zu beruhigen, dass ihr Zimmer nicht im mindesten dem glich, das Henry zu beschreiben versucht hatte, um sie in Angst zu versetzen. Es war keineswegs unverhältnismäßig groß und enthielt weder Gobelins noch Samt. Die Wände waren tapeziert, der Fußboden mit Teppich ausgelegt; die Fenster waren nicht weniger modern oder düsterer als die im Wohnzimmer unten; das Mobiliar, wenn auch nicht nach der letzten Mode, war hübsch und bequem, und der allgemeine Eindruck des Raumes war alles andere als bedrückend. In dieser Hinsicht völlig erleichtert, beschloss sie, keine Zeit mit der genaueren Inspektion des Zimmers zu verlieren, da ihr vor dem Gedanken graute, den General durch ihr verspätetes Erscheinen zu verärgern. Sie schlüpfte deshalb in größter Eile aus ihrem Kleid und wollte eben das Wäschepaket öffnen, das zu ihrer unmittelbaren Verfügung in der Kutsche mitgeführt worden war, als ihr Blick plötzlich auf eine große, hohe Truhe fiel, die neben dem Kamin in einer tiefen Nische stand. Der Anblick ließ sie zusammenfahren und alles andere vergessend, stand sie und starrte in atemloser Spannung auf die Truhe, und folgende Gedanken schossen ihr dabei durch den Kopf:
›Das ist ja wirklich eigenartig! So etwas hätte ich nicht erwartet! Eine enorm schwere Truhe! Was mag darin sein? Warum steht sie hier? Und so versteckt, als solle man sie nicht bemerken. Ich muss hineinsehen – koste es, was es wolle, ich muss hineinsehen – und zwar gleich, am helllichten Tag. Wenn ich bis zum Abend warte, geht womöglich meine Kerze aus.‹ Sie näherte sich der Truhe und untersuchte sie genau: Sie war aus Zedernholz mit interessanten dunkleren Intarsien und stand auf einem dreißig Zentimeter hohen geschnitzten Sockel aus demselben Material. Die Beschläge waren aus Silber, das mit den Jahren seinen Glanz verloren hatte; an beiden Seiten befanden sich zerbrochene Griffe, ebenfalls aus Silber und vielleicht vor ihrer Zeit durch einen rätselhaften Gewaltakt beschädigt, und mitten auf dem Deckel hatte sie ein geheimnisvolles Monogramm aus demselben Metall. Catherine beugte sich gespannt darüber, konnte aber nichts Genaues erkennen. Von welcher Seite sie auch darauf blickte, der letzte Buchstabe sah beim besten Willen nicht wie ein T aus, und doch – dass es in diesem Hause ein anderer sein sollte, gab ihr Anlass zu nicht geringem Erstaunen. Wenn die Truhe ursprünglich nicht ihnen gehört hatte, durch welch rätselhafte Umstände mochte sie in den Besitz der Tilneys geraten sein?
Ihre beklommene Neugier wuchs mit jedem Augenblick, und während sie mit zitternden Händen den Bügel des Schlosses ergriff, beschloss sie, auf alle Fälle dem Inhalt der Truhe auf den Grund zu gehen. Nur mit Anstrengung – denn
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