Klostergeist
geschlossenen Tür zum Wohnraum zu. Auf ein ›Guten Morgen‹ verzichtete Arthur Hafen – sollte der Schultes ruhig merken, dass er nicht zum freundlichen Geplänkel erschienen war.
»Die Uhr zeigt 8.47.« Marlies Engel zog den Morgenmantel enger, als sie die Treppe aus dem Obergeschoss langsam hinunterging. »Guten Morgen, Herr Hafen«, grüßte sie mit leiser Stimme.
Hafen kratzte sich am Kopf. »Morgen«, presste er dann hervor. »Isch es möglich, den Herrn des Hauses zu sprechen?«
Marlies Engel schwieg. Als sei der Stellvertreter ihres Mannes gar nicht da, ging sie an Arthur Hafen vorbei in die Küche. Im Vorübergehen streifte der Frotteestoff ihres Bademantels die Jacke des morgendlichen Besuchers, dem Marlies Engels schwach duftendes Parfüm und ein säuerlicher Schlafgeruch in die Nase stieg.
Einen Moment zögerte Hafen. Dann ging auch er in die Küche.
Marlies Hafen hantierte an der Kaffeemaschine. Das Haar am Hinterkopf war vom Schlaf platt an den Kopf gedrückt, an den Füßen trug Frau Bürgermeister plüschige Pantoffeln in abgewetztem Altrosé. Arthur Hafen registrierte automatisch, dass diese Hausschuhe nicht aus seinem Geschäft stammten, und rümpfte die Nase.
»So, braucht der Herr Bürgermeister erst mal einen starken Kaffee?«, giftete Hafen und lehnte sich an die Anrichte. Langsam, als habe man sie in Zeitlupe eingestellt, drehte Marlies Engel sich zu ihm um. Die ungeschminkten Augen waren rot verquollen und ihre Lippen bebten. Die Hand, mit der sie die Kaffeekanne hielt, zitterte bedenklich und eben, als Hafen ›Vorsicht!‹ rufen wollte, knallte die Kanne auf den Boden und zerschellte auf den weißen Fliesen in tausend kleine Glasscherben. Marlies Engel schlug die Hände vors Gesicht und gab einen Laut von sich, den Hafen nur von jenen Katzen kannte, die er als Junge mit seiner Steinschleuder beschossen und getroffen hatte.
Erschrocken wollte Hafen einen Schritt zurück machen, doch er stieß gegen einen Küchenschrank. Hinter ihm polterte es, dann krachte eine Flasche Multivitaminsaft neben seinen Füßen auf den Boden. Die klebrige Flüssigkeit spritzte auf seine Hose und auf die Schuhe.
»Nein«, schluchzte Marlies Engel und ließ sich auf den Küchenstuhl fallen.
»Aber Frau Engel, das ist doch kein Grund, das war doch nur eine Kanne und den Saft kann man aufwischen.« Arthur Hafen geriet ins Stottern. Frauen waren für ihn schon immer ein schwieriges Terrain gewesen. Frauen und Tränen sowieso. Und dann erst eine weinende Frau im Morgenmantel!
»Mein Mann kommt nicht«, presste Marlies Engel schließlich hervor, ehe ein erneutes Schluchzen sie packte und schüttelte, als sei sie einer jener batteriebetriebener Affen, die Arthur Hafen zur Weihnachtszeit als Schaufensterdekoration verwendete.
Hilflos sah der Schuhhändler sich in der Küche um und entdeckte über der Spüle an einem Drahtgestell eine Rolle Küchenpapier. Hafen machte einen großen Schritt, um nicht in die Saftlache zu treten, und angelte nach der Rolle. Unschlüssig, ob er sich zuerst um den nassen Boden oder um Marlies Engel kümmern sollte, riss er vier Blätter ab und hielt sie hoch.
»Danke«, sagte Marlies Engel und nahm Hafen das Küchenpapier aus der Hand. Mit dem blau geblümten Krepp wischte sie sich über die Augen, die davon noch röter und verquollener wurden, und schnäuzte sich dann geräuschvoll. Ohne aufzublicken, hielt sie das zerknüllte Küchenpapier Richtung Arthur Hafen, der es mit spitzen Fingern entgegennahm und in die Spüle fallen ließ.
»Was heißt das – er kommt nicht?«, brummte Hafen, dem Marlies’ Heulkrampf nun doch allen Wind aus den Segeln genommen hatte.
»Das heißt, dass er nie wieder kommt«, presste Marlies Engel hervor.
»Hat der Sie etwa verlassen?« Hafen spürte, wie seine Wut zurückkehrte. Marlies Engel hob den Kopf und sah ihn unverwandt aus großen Augen an. Mit einem Mal schien sie völlig ruhig zu sein.
»Mich hat er verlassen, Sie hat er verlassen, die ganze Welt hat er verlassen.«
»Ja, und wo ist er bitte hin?« Ungeduldig drehte Hafen die Rolle mit Küchenkrepp in den Händen.
»Weg ist er. Tot ist er. Lebt nicht mehr. Verstehen Sie jetzt?« Die letzten Worte schrie Marlies Hafen beinahe.
Noch ehe die Nachricht ganz in Arthur Hafens Kopf angekommen war, war die Zewarolle zu Boden gesegelt. Die Blätter rollten sich sinnlos von selbst ab. Der Bürgermeister-Stellvertreter ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken. »Das … das … da fehlen
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