Klostergeist
Dreifaltigkeitsberg an Weihnachten. Auf einem Foto waren die Eltern zu sehen, der Vater im Anzug und die Mutter mit frisch gestärkter Bluse. Es war die Taufe von Pius’ Nichte, dem ersten Enkelkind, dem noch sieben weitere folgen sollten. In den Augen der Mutter meinte Pius beim Betrachten des Bildes jedes Mal einen stummen Vorwurf zu sehen, warum er nicht Maria geheiratet hatte. Andererseits waren die Eltern stolz auf den ersten Priester in der Familie.
Pius konzentrierte sich auf die Urlaubsfotos der Engels. Nach der Bilderschau sprach der Pater den genauen Ablauf der Trauerfeier an. Jens-Uwe Engel, der Cousin des Verstorbenen, würde ein paar Worte sagen. Ein Vertreter des Gemeinderates, aller Wahrscheinlichkeit nach Arthur Hafen, stand auf der Rednerliste. Die Wahl der Gebete und Lieder überließ Marlies Engel dem Pater.
Zwei Stunden und drei Tassen Kaffee später entließ die Witwe ihn schließlich in den späten Vormittag – nicht ohne den Hinweis, er möge früher, als sonst bei Beerdigungen üblich, beim Friedhof sein. »Die Sicherheitsvorkehrungen, Sie wissen schon«, erklärte Marlies Engel im Hinblick auf den Auftritt des in der Wirtschaftskrise in die Kritik geratenen Großbankers.
Hier ist Radio Donauwelle, euer Sender für den Kreis Tuttlingen! Am Mikrofon ist eure Mittagsfrau Katja. Richtig, Leute, ich bin heute früher dran, denn unser Morgenmann Steven ist mit Nachteule Regina unterwegs nach Spaichingen. Dort werden sie bei der Pressekonferenz live die aktuellsten Fakten zum mysteriösen Tod des Bürgermeisters Engel erfahren und euch blitzschnell berichten.
Vor wenigen Wochen habe ich Manfred Engel noch selbst getroffen, bei den Kliniktagen der Aesculap-Akademie. Damals sprach er mit mir über den geplanten Ausbau des Freibades. Dessen Einweihung wird er nun nicht mehr erleben …
Etwas erleben könnt ihr heute bei unserem Werbepartner Optik Suttner. Jeder Kunde erhält zusätzlich zur Rabattaktion ein Brillenetui und ein Glas Sekt. Prösterchen sagt in diesem Sinne Otis Redding mit ›Champagne and Wine‹. Bis nach den Nachrichten, eure Regina!
Als Pater Pius keine Viertelstunde später sein Auto in der Garage des Klosters parkte – im Radio spekulierte die schnell sprechende Moderatorin über den Todesfall des Spaichinger Schultes und pries gleich darauf verbilligte Brillengestelle an –, blieb ihm eben noch genug Zeit, um sich auf der Besuchertoilette die Hände zu waschen und ins Refektorium zu hasten. Die Brüder waren bereits zu Tisch gegangen und Pius schlüpfte just in dem Moment an seinen Platz, als Bruder Johannes den Wagen mit den dampfenden Schüsseln aus der Küche schob. Johannes nickte ihm mit einem winzigen Lächeln zu – und aus den Schüsseln stieg der würzige Duft von sauren Linsen mit Spätzle. Pius lief das Wasser im Mund zusammen, als er an seine Leibspeise und die knackigen Wienerle im Linseneintopf dachte. Doch gleichzeitig legte sich ein schaler Geschmack über den verführerischen Duft des Essens – der Kontoauszug, so schien es Pater Pius, hatte in seiner Tasche Feuer gefangen, zu leuchten begonnen. Vorsichtig sah er sich um, doch keiner der Brüder starrte ihn an. Ohnehin waren längst nicht alle Plätze im Refektorium belegt. Bruder Ortwin hatte sich am Morgen Vesperbrote geschmiert, die er im Lehrerzimmer des Gymnasiums essen würde. Und Bruder Sunil, gegen die den Manilesen plagende Kälte eingemummelt in zwei dicke Fleecepullover unter der schweren Kutte, hatte heute Besuchsdienst im Altenheim St. Josef, wo er auch zu Mittag essen würde.
Als Johannes alle Schüsseln auf dem Tisch verteilt hatte, standen die Brüder auf und senkten die Köpfe über den gefalteten Händen. Wie jeden Tag, wenn er an den gemeinsamen Mahlzeiten teilnahm, sprach Pius das Tischgebet.
»Großer Herr, wir danken Dir für Deine Gaben«, begann er. Automatisch sprudelten die Worte über seine Lippen – doch Pius’ Gedanken waren nicht so innig bei Gott wie an anderen Tagen.
»Amen«, klang es schließlich aus allen Kehlen gleichzeitig. Stühlerücken, Geschirrklappern, Essensdampf – beim ersten Bissen in die nicht zu weich und nicht zu fest gekochten Spätzle vergaß Pius den Kontoauszug. Pater Wolfgang schöpfte als Einziger nicht aus den Schüsseln, sondern stand auf und trat an das kleine Pult, das in der Ecke neben einer mit Intarsien verzierten Anrichte stand. Der Pater räusperte sich und blätterte mit angefeuchtetem Finger in dem Buch, das vor ihm
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