Klostergeist
lag:
»Während seiner Novizenzeit hatte er mit Freunden auch über sein Verhältnis zu Frauen gesprochen. Sie rieten ihm: ›Vergiss sie, schließlich willst du Priester werden.‹ Aber er hatte die Frauen nie vergessen. Und jene, mit denen man nachts gerne zusammen war, erst recht nicht. Sein Liebesleben hielt er streng geheim.«
Pater Wolfgang räusperte sich. Eine leichte Röte überzog seine Wangen, doch als er verstohlen den Blick über die Brüder schweifen ließ und bemerkte, dass keiner ihn vorwurfsvoll ansah, las er weiter aus dem Kriminalroman ›Puppenmann‹ von Monika Detering. Schließlich konnte er nicht einfach eine Textstelle auslassen – seit Tagen war dieser Krimi aus einem Meßkircher Verlag nun schon die Mittagslektüre im Refektorium und alle wollten allmählich wissen, wer für das Verschwinden der alten Frau verantwortlich war. Ja, selbst Pater Pius, der sonst für die Ermittler aus den Romanen nur ein müdes Lächeln übrig hatte, war gespannt darauf, wie dieser Kommissar Weinbrenner den Fall lösen würde. Pater Wolfgang atmete tief ein und las weiter vor:
»Da war ›sein Mädchen‹, da war dieses Lächeln, dieser Blick, diese lockende Schüchternheit. Er hatte sich für Gott entschieden. Die Kirche mit ihrer Autorität und Tradition besaß für ihn die Macht, zu entscheiden, was gut und was schlecht war. Er sah seine besondere Zuneigung zu Frauen als ein selbst verursachtes Leiden an, er kämpfte vergebens gegen den Zölibat. Er wusste, er hatte versagt. Immer wieder.«
Klirrend knallte Pius’ Löffel auf den Boden. Linsen spritzten ihm gegen die Hose und ein Spätzle flog an die Wand, wo es wie ein platter Wurm hängen blieb.
In Pius’ Kuttentasche schien das Feuer wieder aufzuflammen. Hatte nicht auch er versagt, als er nach dem Kontoauszug gegriffen hatte? Was hatte ihn dazu getrieben? Die Gedanken hallten in seinem Kopf wider und Pius nahm kaum wahr, wie Johannes ihm einen frischen Löffel reichte. Lustlos stocherte der Pater in seinem Eintopf herum und die Soße, die er sonst mit Wonne auf der Zunge zergehen ließ, schmeckte ihm heute fad und klebrig. Das Ende der gemeinsamen Mahlzeit rauschte an ihm vorbei. Selbst die Bayerische Creme, die Johannes fast so gut gelang wie seinerzeit Pius’ Mutter – kochen konnte sie, immerhin – schien heute aus Pappe zu sein. Irgendwann fand er sich in seiner Zelle wieder.
Pius trat ans Fenster und ließ den Blick schweifen. Auf der Besucherterrasse drei Stockwerke unter ihm stand ein Großvater mit seinem Enkelkind und nestelte 50 Cent aus dem Geldbeutel. Der kleine Junge, wohl keine fünf Jahre alt, hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das andere und wartete ungeduldig darauf, dass der Opa das Fernrohr, mit welchem man bis in die Spaichinger Gärten blicken konnte, in Gang brachte. Die Unschuld des Kindes rührte den Pater und fast meinte er, das muntere Glucksen des Knaben durch das geschlossene Fenster zu hören. Mit einem tiefen Seufzer wandte Pius sich um und blickte auf das Kruzifix an der Wand.
»Was hab ich wieder gemacht?«, flüsterte er. Der hölzerne Heiland schien ihn mit vorwurfsvollen Blicken zu durchbohren. Pius wischte sich über die Augen. Nein, sein Herr sah wie immer mit einem milden Lächeln auf ihn herab.
»Ich bin ein Schaf, verzeih mir«, murmelte Pius und nestelte den Kontoauszug aus der Tasche. Schwerfällig ließ er sich auf den Stuhl fallen und glättete auf dem einfachen Tisch das zerknitterte Papier mit den Händen. 57.000 Euro. Auf das Konto von Bürgermeister Engel. Verwendungszweck: bekannt.
Minutenlang starrte der Pater auf das Papier. Die Zahlen begannen vor seinen Augen zu tanzen und mit einem Mal war er sich sicher, dass dieses Geld womöglich etwas mit Engels Fall vom Turm zu tun hatte. Er müsste den Kontoauszug an Verena übergeben. Müsste. Doch die Scham über seinen Diebstahl fraß sich wie eine schwefelige Flamme in sein Herz. Nein – er könnte der Kommissarin nicht gestehen, dass er, ausgerechnet er, ein Mann Gottes, sich hatte hinreißen lassen. Pius stützte den Kopf in die Hände. Schloss die Augen. Folgte im Geiste dem Flimmern in seinem Kopf, den weißen Blitzen, die hinter seinen geschlossenen Lidern zuckten.
Mit einem Mal wurde Pius heiß. Und dann kalt. Gänsehaut kroch seinen Rücken hinauf und ließ ihn schaudern. Die Blitze in seinem Kopf formten sich zu einer mächtigen Kuppel – viel größer als jene, die die Kirche auf dem Spaichinger Dreifaltigkeitsberg zierte.
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